Die Stunde der Hexen - Midnight Hour 4 - Roman
Anruf entgegengenommen hast. Beantwortest du mir eine Frage?«
»Probieren kann ich es.« Ich versuchte ihn mir anhand seiner Stimme vorzustellen: männlich, unbestimmtes Alter. Er war nicht sonderlich emotional: frustriert, deprimiert, traurig oder wütend. Er war neutral, interessiert. Seine Frage könnte alles betreffen.
»Viele Leute rufen in deiner Sendung an und wollen etwas über Vampire und Werwölfe erfahren, als bewunderten sie sie. Als wollten sie sie sein . Aber wir sprechen hier von Monstern - es sind keine Heiligen. Sie stellen nichts Erstrebenswertes dar. Selbst wenn es sich um eine Krankheit handelt, wie du behauptest, warum sollte jemand dann so eine Krankheit haben wollen ? Ich verstehe es nicht. Kannst du mir erklären, was die Leute in dem Ganzen sehen?« Seine Frage klang echt. Sie hörte sich nicht nach einem Bluff an.
Im Moment gab ich ihm irgendwie Recht.
»Ich weiß nicht, Stan. Unterschiedliche Leute sehen unterschiedliche Dinge darin, glaube ich. Manche sehen Glamour. Oder Macht. Sie fühlen sich hilflos, und diese Daseinsformen sind eine Möglichkeit, sich nicht hilflos vorzukommen. Aber Leute, die keine Vampire und Werwölfe sind, sehen nicht die Realität. Oft haben sie nur die Geschichten vor Augen, das Sagengut, den Nimbus des Geheimnisvollen. Ihre Gefühle basieren darauf, wie dieses Leben ihrer Meinung nach sein muss. Sie sehen nicht die dunkle Seite. Oder wenn sie es tun, reden sie sie sich
ebenfalls schön. Es ist aufregend, es ist gefährlich. Es ist ein Abenteuer. Vielleicht ist es das.«
»Vielleicht?« Er klang skeptisch.
»Du darfst nicht vergessen, dass ich nie ein Werwolf sein wollte. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, bis ich mitten in der Sache drinsteckte. Ehrlich gesagt kann ich den Reiz daran immer noch nicht erkennen. Aber ich gebe zu, dass es Leute gibt, die es tun. Vielleicht liegt es einfach daran, dass man immer gern das hätte, was man nicht hat.«
»Du meinst, wenn sie ein lausiges Leben haben, glauben sie, als Vampir könnte es tatsächlich besser sein?«
»Die Leute sind manchmal komisch, nicht wahr? Weißt du was: Ich richte diese Frage an die Zuhörer. Ruft mich an. Erzählt mir, warum ihr ein Vampir oder Werwolf sein wollt. Klärt mich auf.«
Ich arbeitete mich von oben nach unten durch die Liste, nahm einen Anruf nach dem anderen entgegen. Männer, Frauen, jung, alt, Vampire, Werwölfe und alles dazwischen. Manche hassten das Leben, andere liebten es.
»Es ist die Macht. Ich möchte diese Art von Macht haben.« Das bekam ich immer wieder zu hören.
»Ich habe einfach nicht das Gefühl, in meine Haut zu passen. Ich - ich glaube nicht, dass ich dazu bestimmt gewesen bin, ein Mensch zu sein. Aber beim Anblick von Wölfen … habe ich das Gefühl, dorthin zu gehören. Klingt das merkwürdig? In meinen Ohren klingt es das. Ich habe noch nie zuvor mit jemandem darüber gesprochen.«
»Ich möchte ewig leben.«
»Ich möchte unsterblich sein.«
»Ich habe Angst vor dem Tod.«
»Es tut weh. Wenn ich etwas anderes wäre, würde es vielleicht nicht wehtun. Jedenfalls nicht so sehr.«
»Ich möchte leben.«
»Ich möchte töten.«
Und schließlich ein Mann, der behauptete, ein Werwolf zu sein: »Die Sache ist die, Kitty: Ich habe das Menschsein nicht gemocht . Was hat das menschliche Dasein schon zu bieten? Man wacht jeden Tag auf und schuftet, bloß, damit man gerade einmal ein Dach über dem Kopf hat und Essen im Bauch. Wenn man Glück hat, bringt man es zu einem Minivan und einer Reise nach Disneyland für die Kinder. Dieses Leben, unser Leben - all das wird nebensächlich.« Er stieß ein Lachen aus. »Es ist nicht mehr wichtig. Das Leben ist einfacher. Man wird von ganz anderen Prioritäten gelenkt.«
»Blut«, sagte ich. »Kontrolle.«
»Magie«, sagte er.
»Die totale Lebensflucht.«
»Genau«, sagte er, als handele es sich um etwas Posi - tives.
»Okay, danke, dass du uns deine Meinung mitgeteilt hast.«
Durch die Scheibe des Regieraums deutete Matt auf sein Handgelenk und formte das Wort »dreißig« mit den Lippen. Dreißig Sekunden, um die Sendung zu beenden. Ich rieb mir das Gesicht; ich war bereit, die Flucht an - zutreten. »Keine Ahnung, ob etwas hiervon Stans Frage beantwortet. Meiner Meinung nach gibt es keine einzig richtige Antwort. Die Leute, die sich dieses Leben aussuchen,
und die Leute, die es gern täten, haben alle ihre eigenen Gründe. An dieser Stelle füge ich meinen eigenen Haftungsausschluss hinzu:
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