Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
bleib bei mir …«
Die Fackel an der Wand knackte. Nachdenklich zog sie die Schatten der beiden Frauen so lang, dass sie beinahe bis zur anderen Seite des Gemäuers reichten. Als hielte sie es für ein gutes Zeichen, die beiden wenigstens heute Nacht gleich groß erscheinen zu lassen – bevor die eine morgen in eine neue Welt übertrat und die andere sich davor fürchtete, noch kleiner zu werden, als sie ohnehin schon war.
Eng umschlungen blieben die Schwestern lange stehen. Christina hatte das sichere Gefühl, dass nach dieser Nacht nichts mehr wie vorher sein würde. Es war mehr als ein Abschied vom Mädchentum, ein Abschied von der Jungfrauenschaft – viel mehr als ein Abschied von der gemeinsamen Kindheit und den Erinnerungen. Gott gebe uns die Kraft dafür, dachte sie und atmete den vertrauten Geruch der Schwester ein.
» Verumtamen ipse Deus meus et salutare meum, praesidium meum; non movebor. In Deo salutare meum et gloria mea; Deus fortitudinis meae, et refugium meum in Deo est. Sperate in eo, omnis congregatio populi, effundite coram illo corda vestra; Deus refugium nobis … «
Margarets klare Stimme verzauberte die stille Kirche. Niemand verirrte sich hierher, und als sich die Nacht über Dunfermline senkte, legte Gott einen Gürtel aus Frieden um Sein Haus und barg die beiden Frauen schützend in Seiner Hand.
» Nolite sperare in violentia et in rapina nolite decipi; divitiae si affluant, nolite cor apponere. Semel locutus est Deus, duo haec audivi: quia potestas Deo est, et tibi, Domine, misericordia; quia tu reddes unicuique iuxta opera sua.«
Als eine scheppernde Glocke die wenigen christlichen Brüder von Dunfermline zur Laudes rief, seufzte Margaret tief und beendete ihr langes Schweigen. Sie beugte sich nieder, küsste den Boden vor dem Altar und drehte sich zu Christina um, die auf ihren Knien zusammengesunken war, weil ihr die Beine eingeschlafen waren und sie solche langen Gebetsnächte nicht mehr gewohnt war. Das weiche, entspannte Gesicht der Schwester weckte ihre Geister. Margaret war der Allmächtige wie immer zu Hilfe geeilt, hatte sie getröstet, gesegnet und mit seiner Gnade erfrischt. Gestärkt und beglückt ging sie aus dieser Nacht hervor.
Ein Stein saß in Christinas Herzen. Sie hatte Gott wie so oft nicht gefunden, war während der stillen Andacht zwischendurch sogar immer wieder eingenickt, wofür sie sich nun schämte.
»Das macht nichts«, lächelte Margaret, als Christina sich die Augen rieb. »Gott ist an unserer Seite, Stina. Alles wird gut werden, das weiß ich jetzt.«
»Ja, das wünsche ich uns. Dir vor allem.«
Langsam wanderten die Schwestern zum Ausgang. Draußen heulte der Sturm um die Mauern, gestern Abend hatte er Schnee gebracht. Zum Glück waren alle Gäste bereits eingetroffen, die Burg war voll bis auf den letzten Schlafplatz. Jemand hatte gescherzt, nun fehle nur noch König Wilhelm, um sich zu vergewissern, dass sich der Schotte tatsächlich mit der englischen Prinzessin und Schwester seines Konkurrenten vermählte.
»Den bringen wir auch noch unter!«, hatte Malcolm mit hochrotem Kopf gebrüllt und sein Horn auf den verdammten Normannen erhoben, der gerade dabei war, den Norden seines eroberten Landes in Schutt und Asche zu legen und seinem eigenen Volk nichts als Hunger brachte. »Im Stall werde ich ihm ein Plätzchen einräumen, von den Schweinen kann er die Reste fressen und seine eigene Pisse trinken …«
»Vom Boden auflecken kann er sie!«, schrie ein Schotte hasserfüllt. »Wenn die Schweine ihm was übrig lassen!« Seit erste Nachrichten von seinem grausamen Vergeltungszug durch Yorkshire an den Hof gekommen waren, genoss der Normanne kein Ansehen mehr.
»Die Eier schneide ich dem Bastard ab, wenn ich ihn je zu fassen bekomme!«, hatte der König gebrüllt und das Metfass erneut für alle an der Tafel öffnen lassen. Und so, wie er grimassenschneidend über der Tischplatte hing, schenkte man dieser Ankündigung ohne weiteres Glauben. Daran musste Christina denken, als sich der zarte Körper ihrer Schwester an sie schmiegte.
»Wird er gut zu dir sein? Kann er das?« Sie verkniff sich im letzten Moment das Wort »Barbar«.
Margaret lächelte. »Er wird gut zu mir sein. Gott wird unsere Verbindung segnen – so wie er die deine segnen wird. Mit Seinem Segen ist jede Angst vorbei. Auch für dich.«
Christina blieb stehen. »Meine …?«
Wie eine schimmernde Wolke flog Margarets goldblondes Haar zu ihr herum, welches sie zur Nacht nur
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