Die Stunde der toten Augen
, sagte Werner, sich erhebend, „legt mal die Drops schön zusammen !"
Das Mädchen sah ihm mit gesenktem Kopf zu. Sie war die einzige, die mit den Jungen spielte. Sie lief hinter Werner her, alle wußten es, aber keiner wagte etwas zu sagen. Werner verstand keinen Spaß, wenn es um das Mädchen ging. Er stellte sich vor der Bretterwand auf, dort, wo auch die anderen gestanden hatten. Das Mädchen ließ den Blick nicht von ihm. Sie hielt den Kopf tief gesenkt und beobachtete den Jungen mit ihren flinken, dunklen Augen.
„Aufgepaßt!" sagte Werner halblaut. Er holte aus. Das Messer schwang durch die Luft, mit einer kreisenden Bewegung. Er hielt es auf besondere Art, den Zeigefinger an der Klinge liegend. Als er es fliegen ließ, zuckte es wie ein Blitz auf die Bretterwand zu, die beiden roten Bänder flatterten an seinem Heft. Es blieb zitternd stecken. Der Kopf des Mannes auf dem Bild war heil, aber einen Fingerbreit vor den Augen des Mannes stak die Klinge. Werner holte es, ohne ein Wort zu sagen, wieder zurück. Der Junge, der als einziger das Bild getroffen hatte, sagte halb bewundernd, halb ärgerlich: „Wie du das bloß machst, daß es immer steckenbleibt..."
Werner erwiderte nichts. Das Messer zuckte zum zweitenmal in die Bretterwand. Hinter der Laube flog ein Vogel auf.
Das Mädchen hörte das Geräusch, aber es nahm den Bück nicht von dem Bild mit dem Messer.
„Schulter", sagte Werner kurz, als er das Messer herauszog. Die anderen prüften das Ergebnis mißtrauisch. Das Messer saß dort, wo sich in den Schultern der Anzüge die Wattepolster befinden. „Die Drops hast du gewonnen ...", sagte einer kleinlaut. Werner beachtete ihn nicht. Er warf das Messer zum drittenmal, und bevor er es warf, wog er es liebevoll in der Hand. Es war ihm mehr wert als seine beiden Indianerbücher und das Fernglas, das der Vater ihm gegeben hatte, als er zehn Jahre alt geworden war. „Aufgepaßt", rief er lachend, „jetzt stirbt er!"
Das Mädchen Franziska öffnete den Mund ein wenig. Sie hatte kleine spitze Zähne. Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen und sah dabei das Messer fliegen.
„So!" sagte Werner und steckte die Hände tief in die Taschen. Er ließ zuerst die anderen das Bild betrachten, dann ging er selbst nahe genug heran. Der Junge, der das Bild auch getroffen hatte, sagte anerkennend: „Gewonnen. Zwei Treffer." Er hielt ihm die Drops hin. Werner nahm sie und rümpfte die Nase dabei. Er hielt Franziska die Hand hin und sagte: „Da, nimm das Zeug. Ich esse das nicht."
Das Mädchen nahm gehorsam die Süßigkeiten und erhob sich. Es ging zu der Bretterwand und blieb schweigend davor stehen, die Hand mit den Drops vom Körper abhaltend.
„Im Hals", sagte einer der Jungen. „Ob der davon tot ist?"
Werner zog das Messer aus dem Holz und wischte es ab. Während er es in die Hosentasche steckte, sagte er nachlässig: „Und ob der tot ist. Da, wo das Messer traf, ist die Halsschlagader. Der stirbt ganz schnell. Ihr könnt ihn gleich noch begraben ..."
Die Jungen lachten und redeten durcheinander. Einer nahm das Bild ab und wollte es wegwerfen. Aber Franziska nahm es ihm aus der Hand. Still und ohne eine Gebärde steckte sie es in die Tasche ihrer Spielschürze.
„Im Kopf wäre es besser gewesen", sagte einer der Jungen, „so im Auge oder so ..."
Werner blickte wieder dorthin, wo die Stadt begann. In dem Haus mit der Persil-Reklame wohnte er. Ein Stockwerk über Franziska. „Du Dummer...", sagte er nachsichtig, „als ob ein Messer durch Knochen geht! Der Kopf ist aus Knochen, da kommst du mit dem Messer nicht durch. Halsschlagader ist das einzig richtige..." Er sah Franziska an und fragte sie: „Hast du schon Hunger?" Sie schüttelte den Kopf, aber es war nicht sehr überzeugend. „Gehen wir essen", schlug Werner vor. Er überlegte einen Augenblick, dann fragte er die anderen: „Kommt ihr am Nachmittag mit zum Fluß?"
Sie hatten nichts Besseres vor. Es waren Ferien.
„Gut", sagte Werner und lachte, „in einer Stunde. Holt noch die anderen zusammen. Mal sehen, wenn die von der Mauerstraße am Fluß sind, vermöbeln wir sie wieder anständig..."
Sie zerstreuten sich, als sie heimgingen. Werner streckte die Hand aus und sagte zu Franziska: „Komm, Rotschwänzchen ..." Das Mädchen schlug ihm beleidigt auf die ausgestreckte Hand. Aber sie ging neben ihm her. Sie war kleiner als er, und ihr rotes Haar flammte in der Sonne.
Als er sechzehn Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm ein Fahrrad.
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