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Die Stunde des Spielers

Die Stunde des Spielers

Titel: Die Stunde des Spielers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Vaughn
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wenig plakativ gewesen. Fassen Sie die nicht an ...«
    Meine wandernde Hand hatte mich zu der aufrecht dastehenden Truhe geführt, in der er am vergangenen Abend die sympathische Frau hatte verschwinden lassen. Ich hatte die Kiste gerade berühren wollen, wollte meinen Finger an der Kante entlanggleiten lassen, bloß um das Alter zu spüren, auf eine Art und Weise angelockt, mit der jeder alte und schöne Gegenstand die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
    Grant blieb weiterhin kühl und gelassen, doch er trat einen Schritt auf mich zu. Wenn ich nicht davon abließ, würde er mich zweifellos dazu bringen. »Bitte, diese Truhe ist über einhundert Jahre alt. Sie ist recht zerbrechlich.«
    »Aber Sie lassen jeden Tag wildfremde Leute hineinklettern?«
    »Unter kontrollierten Bedingungen.«
    Ich wich zurück und steckte die Hände hinter meinen Rücken, um jegliche Versuchung zu vermeiden. »Tut mir leid.«
    »Über all das sprechen Sie in Ihrer Sendung, nicht wahr?« Er ging wieder dazu über, die Requisiten auf seinem Tisch zu ordnen. »Magie. Ob es sie gibt.«
    »Ach, ich rede über alle möglichen Sachen. Magie, Abwegigkeiten, das Übernatürliche. Zeug, das man leicht abtun kann, bis man mittendrin landet. Dann hilft es, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen. Deshalb mache ich meine Sendung.«
    »Dann glauben Sie also daran?«
    »Oh ja! In gewisser Weise muss ich wohl, wenn man mal bedenkt, was ich bin.«
    »Stimmt. Die Lykanthropie.«
    »Das bedeutet nicht, dass es keine Hochstapler auf der Welt gibt«, sagte ich. »Deshalb versuche ich, viele Fragen zu stellen.«
    »Das ist gemeinhin klug.«
    »Warum keine Assistentinnen?«, fragte ich. »Wenn Sie es wirklich klassisch machen wollten, würden Sie eine Frau zersägen, oder etwa nicht?«
    »Das hatte für mich immer einen leichten Freud’schen Beigeschmack.«
    »Sie mögen keine hübschen Mädchen in Paillettenkleidern?«
    »Ich arbeite allein. Nun, Ms Norville, haben Sie genug Material für Ihre Sendung?«
    Das Interview war wohl beendet. »Es gibt nie genug. Aber ich habe ein paar Hinweise. Ich versuche, jemanden im Hanging Gardens zu kontaktieren ...«
    »Balthasar«, sagte er. Er hörte auf, ein weiteres Kartenspiel zu ordnen, und sah mich an. »Darf ich Ihnen einen Rat geben? Meiden Sie ihn. Da sollten Sie sich nicht einmischen.«
    Oooh, eine Intrige! »Warum denn nicht? Was ist los?« Traf meine Theorie zu? Versklavte Balthasar Lykanthropen?
    »Es ist kompliziert. Aber es wäre wirklich nicht gut, wenn er von Ihnen erfährt.«
    Oder vielleicht herrschte zwischen den beiden Shows ein gewisser Konkurrenzkampf? Ohne nähere Einzelheiten war ich nicht geneigt, Grants Rat zu befolgen. Es machte die Aussicht auf ein Gespräch mit Balthasar nur noch interessanter.
    »Danke für den Rat«, sagte ich.
    Ich reichte ihm die Hand, und er schüttelte sie. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob er es täte.
    »Und noch etwas, Ms Norville. Wenn Sie das nächste Mal glauben, hinter den Kulissen herumzuschleichen, sei eine gute Idee - lassen Sie es lieber bleiben.« Er wandte sich wieder seinen Requisiten zu, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
    Mein Lächeln gefror, und wieder einmal machte ich mir Gedanken über das Wesen der Paranoia. Ich schlüpfte so schnell wie möglich aus dem Theater.
    Am Nachmittag kamen meine Eltern an. Ben und ich waren mit ihnen zum Abendessen im Olympus verabredet. Ich beeilte mich, weil ich Angst hatte, dass sie schon auf mich warteten. Und ich hatte noch immer keine ruhige Minute gehabt, um mich mit einem schicken Cocktail an den Pool zu setzen. Morgen, vor der Hochzeit.
    Herrgott, die Hochzeit war morgen? Auf einmal kam ich mir vor, als hätte ich die Aktivitäten von drei Wochen in die letzten beiden Tage gequetscht. Doch wenn ich noch bis morgen durchhielt, würde ich mich endlich entspannen können. Wir beide, Ben und ich.
    Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, dass ich meine Eltern vielleicht warten ließ. Als ich im Restaurant eintraf - nachdem ich mich wieder einmal nach Sylvia und Boris umgesehen hatte -, saßen sie bereits am Tisch und verschlangen ihre Vorspeisen. Von Ben keine Spur. Ich rief ihn an, geriet aber gleich an seine Voicemail. Es kostete mich Mühe, nicht verärgert zu sein.
    Es war irgendwie eigenartig, denn ich mochte meine Eltern. Und seit ich nicht mehr bei ihnen wohnte, kamen wir richtig gut miteinander aus. Ich musste sie einfach bewundern, wenigstens ein bisschen. Sie waren seit fünf-

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