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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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geschafft, Ihnen das mitzuteilen, oder sind Sie seit Ihrer Ankunft an Bord pausenlos angeflirtet worden?«
    »Ja – ich meine, nein – das heißt, sie hat …« Tressalian lachte und rollte näher zu mir. Sein Gesicht wurde zum ersten Mal vollständig sichtbar. »Sie müssen wissen, dass sie sich so gut wie nie für Männer interessiert – aber wenn doch, mein Gott …« Ich reagierte mit einem Lächeln auf diese Äußerung, obwohl meine Aufmerksamkeit mehr seinem Gesicht galt als seinen Worten. Die Züge waren denen von Larissa nicht unähnlich – zartknochig und hübsch –, und das Haar hatte die gleiche silbrige Farbe. Die Augen waren jedoch vollkommen anders, nämlich von einem eigenartig hellen, geradezu unirdischen Blau. Aber ich bemerkte noch etwas viel Wichtigeres in diesem Gesicht, einen Ausdruck nämlich, den ich oft bei Kindern, die hohe Haftstrafen absaßen, aber auch bei zu lange nicht behandelten schizophrenen Patienten gesehen hatte: jene unergründliche Tiefe, die von geballter, nicht nachlassender seelischer und körperlicher Qual herrührte, ein Brandzeichen, das so unverwechselbar war wie ein Geburtsmal.
    »Und ich entschuldige mich wirklich für die Art«, fuhr Tressalian liebenswürdig fort, »wie Sie an Bord gebracht worden sind.« Bei diesen Worten verlagerte er sein Gewicht, um aufzustehen, was ihm trotz der Schmerzen, die es ihm sichtlich bereitete, in diesem Moment offenkundig wichtig war. Er griff nach einem Paar Aluminiumkrücken, die links und rechts an seinem Rollstuhl angebracht waren, klemmte sie sich unter die Achseln und stemmte sich dann mühsam hoch. Ich wusste nicht recht, wie ich ihm helfen sollte, vor allem, weil ich vermutete, dass er keine Hilfe wünschte; und als er erst einmal aufrecht stand, schien er in der Tat froh zu sein, dass er aus eigener Kraft auf mich zukommen und mir die Hand schütteln konnte. »Allerdings haben Sie sicherlich Verständnis dafür«, fuhr er fort, »dass wir Sie nicht einfach zurücklassen konnten, damit Sie ein ähnliches Schicksal wie Mr. Jenkins erleiden.« Seine Miene wurde ernst. »Ich glaube, Eli hat Ihnen schon sein Beileid ausgesprochen – lassen Sie mich meines hinzufügen. Es war eine abscheuliche Tat, selbst für diese nicht totzukriegende Bestie, die wir Central Intelligence nennen.«
    »Dann war es also der Staat«, sagte ich leise. Max’ Gesicht erschien einen Moment lang vor meinem geistigen Auge.
    Tressalian nickte mitfühlend. »Sie waren beide zu dicht dran, was John Prices Tod betraf.«
    »Was seinen Tod betraf?«, fragte ich vorsichtig. »Oder vielmehr die Bilder, an denen er herumgebastelt hatte?«
    Tressalians Lächeln kehrte zurück. »Das ist ein und dasselbe, Doktor – wie Sie sicher schon vermutet haben. Ihr Tod hätte jedoch lästiges öffentliches Aufsehen erregt. Trotzdem, wenn Sie hartnäckig geblieben wären, hätte man mit ziemlicher Sicherheit einen Weg gefunden, Sie unauffällig zu beseitigen.«
    »Aber warum?«, fragte ich unwillkürlich. »Was zum Teufel geht da …«
    Der Mann, der an der Steuerkonsole saß, schnitt mir das Wort ab. Er sprach in ruhigem, aber strengem Ton. »Larissa macht sich bereit, den Kampf zu eröffnen. Die anderen sind in Reichweite, und sie hat die Kontrolle über die Steuerung auf die Gefechtsstation umgeleitet.«
    Tressalian seufzte, schien aber nicht sonderlich besorgt zu sein. »Dann haben Sie im Moment ja nichts weiter zu tun, Colonel. Kommen Sie – ich möchte Sie mit Dr. Wolfe bekannt machen.«
    Der Mann an dem nunmehr nutzlos gewordenen Bedienungsfeld stand auf, und noch bevor er sich umdrehte, sah ich, dass er ein ausgesprochen militärisches Gebaren an den Tag legte; dazu passte sein Anzug mit dem hohen Kragen, der eigentlich eher eine schmucklose Uniform war. Er drehte sich mit einer raschen, abrupten Bewegung um, und was ich als Nächstes sah, veranlasste mich, schnell und ziemlich unhöflich nach Luft zu schnappen.
    Dicke, tief sitzende Augenbrauen zeichneten sich in der dunkelbraunen Haut über stechenden schwarzen Augen ab, und hätte er das Kinn noch mehr gereckt, so wäre ihm vermutlich der Unterkiefer abgebrochen. Meine extreme Reaktion rührte jedoch her vom Anblick einer der schrecklichsten Narben, die ich je gesehen hatte. Sie verlief über die ganze rechte Seite seines Kopfes, zupfte an einem Auge und zog einen Mundwinkel herunter, sodass er ständig missmutig dreinzuschauen schien. Eine schneeweiße Strähne zog sich entlang der Narbe ins ansonsten

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