Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
anhaben? Man schlachtet keine Kuh, die sich melken lässt!«
»Du redest wie ein Mann! Noch dazu wie ein abgefeimter Schuft.«
»Ich hatte gute Lehrmeister und will für nichts anderes gehalten werden.« Sie klopfte auf die Satteltaschen. »Hier drin steckt Lamberts Geleitschreiben nach Spanien. Es wird mich bis Antwerpen ausweisen, und sehe ich nicht wie ein schmucker Jüngling aus in seinen Beinkleidern! Er hat sie nie getragen, weil sie ihm zu äffisch waren. Vater hat spanisches Leder und englisches Tuch verwenden lassen. Ich war ihm nie so dankbar für eins meiner Kleider. Und nun, öffne das Tor.«
»Selbst in dieser Aufmachung wirst du großen Gefahren ausgesetzt sein.«
»Wenn Gott einen Menschen strafen will, erfüllt er ihm seine Träume, heißt es. Ich wollte immer reisen – nun tue ich es. Mehr Sorgen mach ich mir um dich. Aleander darf nie herausfinden, wer mir zur Flucht verhalf!«
Ihr Gegenüber senkte den Kopf. »Lass uns ein Gebet sprechen.«
Sidonia verkniff sich eine spöttische Bemerkung. Sie faltete ihre Hände über den Zügeln. Die Witwe sprach den biblischen Psalm, den man Jakobspilgern in Abschiedsmessen mit auf die Reise gab.:
»Es wird dir nichts Böses begegnen,
denn der Herr hat seinen Engeln
befohlen, dass sie dich behüten
auf all deinen Wegen,
dass sie dich auf Händen tragen
und dass du deinen Fuß
nicht an einen Stein stoßest.«
Amen, wollte Sidonia schließen und ihr tänzelndes Pferd antreiben, doch die Witwe hob die Hand.
»Mögest du die leuchtenden Fußstapfen des Glücks finden und ihnen folgen auf deinem ganzen Weg.«
Sidonia beugte sich aus dem Sattel hinab und umschlang die Schultern Doña Rosalias. »Ich werde deinen Sohn Adrian finden! Das schwöre ich beim Allmächtigen.«
Und bei der Karte, die sie noch in der Nacht gezogen hatte. La fuerza , die Kraft, zeigte eine furchtlose Frau, die einem Löwen das Maul aufriss. Nannte Aleander sich nicht den Löwen des Glaubens?
Die Witwe erwiderte die Umarmung. »Suche in Spanien Padre Fadrique auf! Sage ihm, dass ich Lunetta zu ihm zurückgeschickt habe. Er wird wissen, was zu tun ist. Der Padre findet immer eine Lösung. Ich hoffe, dass sie sicher zu ihm gelangt. Du kannst ihm vertrauen.«
»Verzeih, dass ich dich immer mit so viel Mutwillen behandelt habe.«
Die Witwe schüttelte den Kopf. »Du musst mir verzeihen. Immerhin habe ich Aleander bei deiner Verführung geholfen und die Eheurkunde unterzeichnet!«
»Er drohte, deine Enkelin zu ermorden, und du hast sie gerettet. Und nun rettest du mich. Ich wünschte, ich wäre ähnlich selbstlos und hätte nur ein Zehntel deines Gottvertrauens!«
»Ach, Sidonia, du weißt nicht, wie ähnlich du mir bist! Wie du wurde ich für viel Geld an meinen verstorbenen Mann mehr verkauft als verheiratet. In Wahrheit liebte ich einen anderen, aber ich musste mich hinter der Maske des Hochmuts und strengster Frömmigkeit verbergen, weil ...« Doña Rosalia brach ab. Dieses Geheimnis konnte sie nicht preisgeben. Entschlossen löste sie die Umarmung. »Reite mit Gott, mein Kind. Mein Herz begleitet dich.«
Als das Pferd am Ende der Gasse in Galopp verfiel und eine vorgelegte Kette übersprang, setzte Doña Rosalia einen Gruß hinzu, den sie zuletzt als Mädchen aus dem Mund ihrer Mutter vernommen hatte: »Schalom.«
Zweiter Teil
A NTWERPEN, E NDE J UNI 1527
E S WIRD EINE Z EIT KOMMEN,
IN DER DU GLAUBST, NUN SEI ALLES VORBEI.
G ENAU DANN GEHT ES LOS.
Louis L’amour
1
Ein Glockenspiel läutete den Nachmittag ein. Silbernes Hämmern rollte wie eine tönende Perlenkette herab und verklang. Die Dohlen im Turm der Liebfrauenkirche nahmen ihr Geschwätz wieder auf. Ganz Antwerpen schien ein Loblied auf das Dasein – aus Seide und aus Holz, aus Metall und aus Stein, aus Tönen und aus Zucker. In ungezählten Buden und Laubengängen lagen die Schätze der Scheldestadt zur Schau.
Dank neuer Seehandelswege schickte Antwerpen sich an, Venedig den Rang als reichste Handelsmetropole des Abendlandes abzulaufen. Händler, Pilger und Bummler aus aller Welt wünschten, sie hätten hundert Augen für die hundert Seligkeiten. Ihre verliebten Blicke hingen an Lüstern aus Muranoglas, Polsterkissen aus dem Orient, silberdurchwirkten Ledertapeten aus Cordoba und Edelsteinen aus der Neuen Welt. Doch das herrlichste Schmuckstück in diesem Schmuckkasten war die Stadt selbst. Wie ein aufgestellter Spitzenkragen säumten Zunfthäuser den Grote Markt. Auf Stufengiebeln spiegelten goldene
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