Die Teufelssonate
während ihm Fragen durch den Kopf schossen. Hatte Presse im Saal gesessen? Oder noch schlimmer: Polizei? Hatte jemand sehen können, daß er seine Selbstbeherrschung verloren hatte?
Er fluchte vor sich hin. Es war vermutlich genau das, was Valdin wollte. Warum hatte er sich so eine Blöße gegeben? Warum war er so unsicher gewesen? Er hatte sich zu Musik verleiten lassen, die überhaupt nicht zu ihm paßte. Das war es! Früher war ihm das nie passiert. Da hatte ihn niemand aus dem Gleichgewicht bringen können. In seinen besten Tagen hatte er auf der Bühne gestrahlt. Vor einem Auftritt hatte ein inneres Feuer in ihm geglüht. Diese Hitze hatte die Leute auf Distanz gehalten, ihn unantastbar gemacht.
Mit Liszt war ihm das nie passiert. Liszt verlieh ihm eine übermenschliche Kraft. Natürlich hatte er Angst vor der intensiven Leidenschaft und Besessenheit von damals. Aber diese Zeit war vorbei. Er war jetzt reifer geworden, erwachsener. Er konnte viel besser Abstand wahren.
Seltsamerweise war er Valdin schon nicht mehr böse. Nein … eher im Gegenteil. Der Zwischenfall hatte ihm einen Schubs in die richtige Richtung gegeben. Er mußte alles dafür tun, dieses Gefühl jetzt festzuhalten. Er griff zum Telefon.
»Keine Panik, Bröll. Ich fühle mich ausgezeichnet. Wir machen einfach weiter. Ich ändere nur das Programm. Ja, ja … erst in einem Monat. Mehr als genug Zeit. Wirklich. Glaub mir.«
Er würde Valdin beweisen, wozu er in der Lage war. Von einem Duell könne natürlich keine Rede sein. Er würde sich nicht zu einem banalen Zweikampf herablassen. Aber er würde wieder Liszt spielen. Er würde kaum Vorbereitungszeit benötigen. Liszt habe er in den Fingern. Er würde allen zeigen, daß der Komponist nicht nur eine virtuose, bombastische Seite hatte, sondern eben auch eine poetische. Nicht umsonst seien so viele seiner Kompositionen von Dichtungen inspiriert. Senna habe sie ihm alle vorgelesen.
Bröll hörte sich den Monolog geduldig an.
»Ach ja«, sagte er auf einmal. »Das hätte ich fast vergessen, Noto. Ich weiß, wo Valdin die letzten beiden Jahre gesteckt hat.«
»Nämlich?«
»Irgendwo in Deutschland. Er hatte Privatunterricht bei Karl Süssmeier.«
»Süssmeier, bist du sicher?«
Notovich erinnerte sich, daß er diesen Namen in einem Buch notiert hatte.
»Karl Süssmeier, war das nicht dieser ostdeutsche Pianist?« fragte Bröll.
»Ja, aber wir kennen ihn eigentlich nur von illegalen Tonbändern«, wußte Notovich noch. »Sie wurden in den sechziger und siebziger Jahren durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt.«
»Was ist denn so Besonderes an diesem Kerl?«
»Süssmeier war ein Schüler eines Schülers eines Schülers von …«
»Du meinst … von Liszt?«
»Dem einzig wahren.«
Notovich hielt das Gerücht für unglaubwürdig. Er hatte noch nie gehört, daß Süssmeier Schüler annahm. Außerdem, wie alt mußte der Mann inzwischen sein? Das war sicher wieder eine Lüge aus Valdins PR -Maschine.
Er unterbrach die Verbindung und suchte die Nummer von Natasja, aber zu seiner eigenen Verwunderung rief er Vivien an. Er verstand zuerst selbst nicht, warum. Sie klang distanzierter als das letzte Mal und wollte nicht verraten, wo sie war. Aber irgendwie mußte er sie einfach sehen.
»Ich war gestern dabei, Mischa«, sagte sie auf einmal.
»Wobei?«
»Dein Konzert. Valdin hatte mir nicht erzählt, wo wir hingehen würden. Aber als ich hineinkam … Wie schrecklich für dich.«
»Hast du gesehen, was hinter den Kulissen passiert ist?«
»Wir haben nur Gepolter gehört. Was war denn los?«
»Das tut nichts zur Sache. Es ist vorbei. Kann ich dich sprechen?«
Er redete sich ein, daß er sie nur sprechen wollte, um die Wahrheit herauszufinden. Er mußte Gewißheit haben. Er mußte in den Spiegel schauen können, ohne sich zu fragen, wer ihn dort aus dem Halbdunkel anstarrte. Sie zögerte zunächst, gab dann aber nach. Er sprach nicht aus, was er wirklich fühlte: Wenn er wieder Liszt spielen würde, brauchte er sie.
»Du hast aufgeräumt«, bemerkte Vivien, als sie eintrat. Sie setzten sich. Ihre vorige Begegnung war offenherzig und intim gewesen, doch es hatte den Anschein, daß sie sich nun dafür schämte. Erst nach ein paar Minuten wurde sie etwas aufgeschlossener.
Mit Valdin wechselte sie kaum noch ein Wort. Er ging völlig in seiner Musik und seinem neuen Status als musikalisches Phänomen auf. Sie verbrachte tagelang allein in ihrem Hotelzimmer. Sie hatte zwar eine Wohnung in
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