Die Tiefe einer Seele
hatte. Zum Glück hatte ihr Mann die Notbremse gezogen. Obwohl sie ihm das die ersten Wochen danach mehr als übel genommen hatte. Sie hatte es als Verrat empfunden. Verrat an dem eigenen Kinde, am eigenen Fleisch und Blut. Was waren sie für Eltern, dass sie ihr kleines Mädchen in ihrer Not im Stich ließen. Nachdem sie es schon vorher nicht mal bemerkt hatten, auf welche Katastrophe Amelie und mit ihr die ganze Familie zusteuerte. Nächtelang hatte sie mit Egidius diskutiert, hatte ihn davon überzeugen wollen, dass nur sie alleine ihrer Kleinen würden helfen können. Bis ihrem Mann der Kragen geplatzt war, und er ihr in aller Härte vor Augen führte, was sie bislang im Gesundungsprozess Amelies bewirkt hatten, nämlich nichts. Hatte sie ohne jedes Erbarmen damit konfrontiert, was sie denn gemacht hätte, wenn ihre Tochter zum Beispiel an Darmkrebs erkrankt wäre. Ob sie dann etwa gemeint hätte, sie mit Kamillentee behandeln zu können. »Magda!«, hatte er gesagt. »Unser Kind ist krank. Sie hat versucht, sich mit einem Elektrokabel zu erdrosseln. Mit 14 Jahren. Dieser entsetzliche und schockierende Umstand lässt die Schwere ihrer Erkrankung erahnen. Genau wie Du bin ich der Meinung, dass wir alles für unsere Tochter tun müssen. Doch vor allem müssen wir das Richtige tun. Und das ist in diesem Fall, Hilfe annehmen. Hilfe von professioneller Seite, denn Du und ich sind in dieser Situation überfordert. Wir haben unsere Grenzen schon lange überschritten, und weil wir eben nicht nur für Amelie die Verantwortung tragen, sondern auch für unsere vier Söhne, ist es allerhöchste Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen.«
Sie hatte es schlussendlich eingesehen. Nur wenige Tage später brachten sie Amelie in einem privaten Sanatorium in Aurich unter. Magda hatte in den Wochen danach immer noch sehr mit sich gehadert, aber schließlich war sie zu Ruhe gekommen. Eine Ruhe, die sie in den grauenhaften Monaten zuvor niemals besessen hatte. Und sie gewann wieder an Zuversicht. Daran hatten ihre vier Jungs einen großen Anteil, die sich rührend um ihre Mutter kümmerten. Ganz besonders die Zwillinge, die von ihrem schlechten Gewissen gequält wurden und sich in diesen Tagen schon fast besorgniserregend brav und als vorbildliche Söhne präsentierten. Aber auch der zwölfjährige Joshua und sein drei Jahre jüngerer Bruder Elias schafften es immer wieder, ihre Mutter abzulenken und manchmal gar ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Heute zum Beispiel hatten die zwei keine Ruhe gegeben und hatten sie nach dem Mittagessen einfach an die Hand genommen und zum Strand gezogen. Die Jungs tollten im Sand herum, während Magda auf der alten, karierten Decke, die wahrlich schon bessere Zeiten gesehen hatte, saß und ihre Nase in den erfrischenden Wind hielt.
Es war reichlich kühl in diesen letzten Tagen des Septembers, und eine herbstliche Atmosphäre machte sich über dem kleinen Eiland breit. Viele Touristen waren nicht mehr auf Spiekeroog. Die Jahre zuvor hatte die Pastorenfrau sich immer auf die ruhigere Jahreszeit gefreut, diesmal war ihr jedoch ein bisschen Bange ums Herz, wenn sie an die langen und dunklen Abende dachte. Aber nein, sie wollte diese traurigen Gedanken ja nicht mehr zulassen. Sie wollte nach vorne sehen. Es würde schon werden. Es musste einfach werden. Amelie würde sich erholen, und alles wäre beim Alten. Nur das konnte doch das Ziel sein.
Ihr Mann hatte diese Normalität fest anvisiert. Bereits vor Wochen hatte er seinen Dienst wieder angetreten und übte das Amt des Insel-Seelsorgers mit noch größerer Inbrunst aus, so kam es Martha jedenfalls vor. Und das, obwohl ihm viele Einheimische mit offensichtlicher Verlegenheit, manche sogar mit Argwohn begegneten. Ihr Gide ließ sich dadurch nicht irritieren, so war er nun mal. Was sie selbst betraf, so hatte sie, seitdem das mit Amelie passiert war, kein einziges Wort zu Papier, respektive in den Computer gebracht. Nicht, dass ihr nichts mehr eingefallen wäre. Nein, das Ende ihres Krimis war in ihrem Kopf klar strukturiert und bereit, niedergeschrieben zu werden. Aber sie hatte sich geschworen, dass sie erst weitermachen würde, wenn ihr Kind wieder gesundet war. Normalität hin oder her, da ließ sie auch nicht mit sich diskutieren. Sie glaubte einfach, dass sie das ihrer Tochter schuldig sei.
Magda zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer wärmenden Windjacke bis zum Hals hoch und beobachtete schmunzelnd ihre beiden Jüngsten, die zu Fall gekommen
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