Die Tiefe einer Seele
schon als junger Bursche träumte ich davon, irgendwann eine Tochter zu haben. Liegt vermutlich daran, dass ich mit lauter Brüdern aufgewachsen bin. So ging also in diesem Februar vor 24 Jahren ein großer Wunsch für mich und meine Frau in Erfüllung. Amelie war ein wahrer Sonnenschein, der auch an trüben Tagen ein Lächeln auf unser Gesicht zauberte. Brav konnte man sie zwar nicht nennen, dafür heckte sie zusammen mit ihren Geschwistern viel zu gerne Streiche aus, aber sie hat uns nie ernsthaft Anlass zur Sorge gegeben. Sie war lebhaft und aufgeschlossen für ihre Umwelt, und sie liebte es, zu lernen. Schon bevor sie eingeschult wurde, konnte sie lesen. Nicht, weil wir das forciert hätten, sondern weil die kleine Maus es unbedingt wollte, nicht eher Ruhe gab, bis wir ihr jeden einzelnen Buchstaben beigebracht hatten. Sie war so glücklich, als sie mir das erste Mal etwas vorlas.« Lächelnd schwelgte der Pastor in seinen Erinnerungen und die Gedanken an diese unbeschwerte Zeit ließen ihn plötzlich viel jünger erscheinen. Doch schon Sekunden später verfinsterte sich seine Miene wieder.
»Das Leben, das wir Johannsons damals hatten, schien eines aus dem Bilderbuch zu sein. Meine Frau und ich führten eine harmonische Ehe, wir waren mit fünf gesunden Kindern, gesegnet und zufrieden in unseren Berufen. Das alles änderte sich am 15. März 2003. An diesem Tag hat Amelie zum ersten Mal versucht, sich umzubringen. Wollte sich mit einem Elektrokabel an einem Heizkörper in ihrer Schule erhängen……«
Egidius verstummte für einen Moment, denn die fassungslosen und erschütterten Blicke von James und Erin Prescott erinnerten ihn schmerzhaft an seine eigenen Gefühle, die ihn damals aus dem Nichts überrollt und beinahe zerstört hatten. Stockend sprach er weiter.
»Wissen Sie, jeder kennt das doch, oder? Dass man Angst davor hat, dass etwas passiert, was alles ändern könnte. Etwas geschieht, was einem den geliebten Menschen nimmt. Und manchmal ist das Schicksal tatsächlich so grausam und lässt einen Albtraum zur Wirklichkeit werden, wer wüsste das besser als Sie, James? Bis zu diesem 15. März 2003 waren meine Albträume die ganz normalen eines liebenden Vaters. Ich fürchtete mich, dass meine Kinder krank werden oder einen Unfall haben könnten, ja. Aber niemals, nicht mal in meinen schlimmsten Phantasien, hätte ich mir vorstellen können, dass sie für sich zu einer Gefahr werden könnten, dass sie selbst den Wunsch hegen könnten, ihr Leben zu beenden. An diesem Tag also musste ich mit einer gnadenlosen Grausamkeit lernen, dass meine ärgsten Ängste um meine Kinder begrenzt gewesen waren. Begrenzt, oberflächlich und einfach nicht ausreichend. So empfand ich es damals jedenfalls und mit mir meine Frau und Amelies Brüder.
Wir hätten es sehen müssen, erkennen müssen, dass unsere Kleine sich verändert hatte. Dass ihr Lächeln, ihr Humor, ihre Leichtigkeit verschwunden war, aber nichts dergleichen war geschehen. Vielleicht weil wir alle zu sehr mit den eigenen Dingen beschäftigt waren. Natürlich werden Sie wissen wollen, was genau Amelie zu diesem Schritt getrieben hat. Das haben wir uns natürlich auch gefragt, doch zunächst ging es um das nackte Überleben unserer Tochter. Sie hätte es nämlich fast geschafft. Zu sterben, meine ich. Nicht nur in der Schlinge dieses verdammten Kabels, sondern in den darauffolgenden Tagen. Dreimal brach in der Woche nach dem Suizidversuch ihr Kreislauf komplett zusammen. Dreimal musste sie wiederbelebt werden. Dreimal gingen meine Frau und ich, die ganze Familie durch eine Hölle, wie man sie sich schlimmer gar nicht ausmalen könnte. Erst danach durften wir sicher sein, dass sie zumindest leben würde. Doch wir hatten keine Ahnung, ob sie noch die gleiche war. Ob ihr Gehirn nicht Schäden davon getragen hätte.
Als sie das erste Mal die Augen aufschlug, diese wunderbaren, funkelnden, grünen Augen, da wusste ich, dass der Herr ein Einsehen gehabt hat. Ihr Blick war klar und aufgeschlossen, eigentlich wie immer. Und sie erkannte uns. Sofort! Und dieser Moment nahm mir dann die Erleichterung, die ich zuvor verspürt hatte. Denn plötzlich war da nur noch Traurigkeit in ihrem Gesicht. Traurigkeit und eine unendliche Scham wegen dem, was da passiert war. Natürlich haben wir ihr versichert, dass das alles nicht zählen würde, dass wir froh wären, dass sie lebte, und dass wir jetzt dafür sorgen müssten, dass sie wieder gesund wird. Die Ärzte, die sie nach
Weitere Kostenlose Bücher