Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
haben.«
Er sah sie dabei beschwörend an, als wollte er die Wahrheit seiner Worte herbeizwingen. »Sie sollten nicht hier sein, das wissen Sie.«
»Ich habe ihn schreien hören, da konnte ich doch nicht im Bett bleiben und nichts tun.«
Er schenkte ihr ein sarkastisches Lächeln. »Natürlich nicht. Obwohl andere damit kein Problem zu haben scheinen.«
Es war tatsächlich seltsam, dass sonst niemand gekommen war, um nach dem Ursprung der Schreie zu sehen.
Der junge Mann beruhigte sich; ob durch Henrys Beschwörungen oder durch die Stille, die im Zimmer eingetreten war, wusste sie nicht.
»Adam, hast du die Fenster selbst geöffnet?«, fragte Henry noch einmal.
Adam. Wer war Adam?, fragte sich Emma. Sie erinnerte sich nicht, dass die Westons jemals diesen Namen erwähnt hatten.
Der junge Mann antwortete nicht und hielt sein Gesicht weiterhin in seinen Armen verborgen, doch ein Zucken, ein ganz leichtes Kopfschütteln, hieß anscheinend nein .
»Wer hat sie dann geöffnet?«
Als keine Antwort kam, soufflierte Henry geduldig: »Mrs Prowse?«
Adam schüttelte wieder den Kopf.
»Einer von den Jungen – Julian oder Rowan?«
Ein Zögern, ein ganz kurzes Stillhalten. Dann wieder ein Kopfschütteln.
Emma fragte sich, was das wohl bedeutete.
»Nun, wir reden morgen darüber«, sagte Henry und stand auf. »Jetzt musst du wieder ins Bett. In Ordnung? Du musst doch müde sein. Ich bin es jedenfalls.«
Als Adam nicht antwortete, drängte Henry ihn sanft: »Komm, steh auf.« Er griff nicht nach dem Ellbogen des jungen Mannes, sondern streckte nur seine Hand zur Hilfe aus. Adam blickte unter üppigen braunen Locken zu Henrys Hand auf, doch schließlich nahm er sie. Henry zog ihn mit Leichtigkeit auf die Füße.
Jetzt sah Emma zum ersten Mal in Gänze sein Gesicht. Es war schmal und blass, ja, aber durchaus wohlgeformt. Er erinnerte sie an ein Gemälde von Raphael, einen gefühlvollen jungen Mann, das sie in einem ihrer Bücher gesehen hatte. Ätherisch, aber dennoch sehr männlich. Außerdem war etwas unbestimmt Vertrautes an ihm, obwohl sie sicher war, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.
Der junge Mann legte sich ins Bett. Emma blieb stehen, wo sie war.
Henry wartete, bis Adam auf dem Kissen lag, die Arme gerade an den Seiten ausgestreckt, und zog ihm dann die Decke bis unters Kinn hoch. »Gut?«, fragte er.
Ein kleines Nicken. Die Augen starrten zur Decke hoch, als warteten sie, dass der Schlaf von oben auf ihn herabfalle.
Emma wartete, bis Henry seine Kerze genommen hatte, vor ihr auf den Flur hinausgetreten war und leise die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
Dann flüsterte sie: »Wer ist denn das arme Geschöpf?«
»Er ist kein armes Geschöpf, Miss Smallwood«, sagte er. »Er ist mein Bruder.«
Ihre Augen richteten sich im flackernden Kerzenlicht auf sein Gesicht. »Bruder?«, wiederholte sie. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Bruder namens Adam? Warum hatte sie denn nie von ihm gehört? Doch dann gab sie sich die Antwort auch schon selbst. Wenn sie an die vergangene Szene, Adams Körperhaltung und sein Verhalten dachte, die Umstände, unter denen sie ihn kennengelernt hatte, konnte sie sich denken, warum er ihr nie vorgestellt worden war.
Henry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich erkläre es Ihnen, Miss Smallwood. Versprochen. Aber nicht mehr heute. Es ist furchtbar spät und ich bin völlig erschöpft.«
»Ich verstehe.«
»Wenn Sie bitte so gut wären, das Ganze für sich zu behalten … vorläufig wenigstens? Lady Weston liegt sehr daran, dass die Penberthys nichts von Adam erfahren.«
Emma fragte sich, wie Lady Weston das Ganze geheim halten wollte, wenn Miss Penberthy tatsächlich in die Familie einheiraten würde, doch sie sagte nur: »Ist gut«, und wandte sich ab.
»Miss Smallwood?« Beim Klang seiner Stimme drehte sie sich noch einmal um. »Danke für Ihre Hilfe. Für Ihr Verständnis.«
»Gern geschehen. Gute Nacht.«
Emma ging zurück in ihr Zimmer. Ihr Kopf war voller Gedanken und Fragen; sie wusste, dass sie noch lange keinen Schlaf finden würde.
Lady Weston hatte beschlossen, den Besuch der Penberthys mit einem Nachmittagskonzert abzuschließen. Nach der Kirche erwartete sie zu Hause zunächst ein Buffet: Brot, kaltes Fleisch und Käse, Salate und Süßspeisen.
Dann gingen sie alle in das angrenzende Musikzimmer, wo Mr und Miss Smallwood auf Lady Westons Bitte zu ihnen stießen, um die Illusion eines richtigen Publikums zu schaffen. Es ärgerte Henry, den
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