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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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habe keine Gewalt über Wind und Wetter.
    Horatio Nelson
    An diesem Abend war Emma kaum eingeschlafen, als ein durchdringender Schrei sie aufweckte. Sie fuhr im Bett hoch, bereit, sofort zu Hilfe zu eilen – welcher Schüler auch immer ihre Hilfe brauchen mochte. Wer war es?
    Dann endlich holte ihr Verstand ihr jagendes Herz und ihre wirbelnden Gedanken ein.
    Sie war nicht in Longstaple, unter einem Dach mit den Schülern. Sie war auf Ebbington Manor. Nicht recht Gast, nicht recht Dienstbote, auf keinen Fall Familie. Das hieß, falls nicht ihr Vater geschrien hatte – und er war es nicht gewesen –, war es nicht ihre Aufgabe, der Person zu Hilfe zu eilen, ganz gleich, wer es auch gewesen sein mochte.
    Ein paar Augenblicke saß sie einfach da und lauschte, horchte angespannt, ob dem ersten Schrei ein zweiter folgte oder ob es nur der einzelne Schrei eines Menschen gewesen war, der aus einem Albtraum erwachte.
    Draußen vor dem Fenster explodierte ein Blitz. In der Hast der vielen Arbeit für den Ball und die Gäste war keiner gekommen, um die Fensterläden in ihrem Zimmer zu schließen, und sie hatte ebenfalls nicht daran gedacht, als sie zu Bett gegangen war. Draußen rollte der Donner, die Blitze erhellten ihr Zimmer. Hatte jemand im Haus vielleicht Angst vor Gewitter? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Julian oder Rowan mit ihren fast sechzehn Jahren noch solche Ängste hegten, und Lizzie, die ein Jahr älter war, konnte es ebenfalls nicht sein, auch wenn sie recht unreif für ihr Alter war. Emma hoffte, dassniemand erkrankt war, gerade jetzt, in der letzten Nacht, die die Penberthys im Haus verbrachten.
    Da sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen konnte, ehe sie sich versichert hatte, dass alles in Ordnung war oder dass sie zumindest nichts tun konnte, stand sie auf, warf sich ihren Hausmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und öffnete die Tür.
    Abermals zerriss ein Schrei die Stille. Emma erstarrte, Schauer liefen ihr über den Rücken. Das arme Ding, wer immer es war! Sie hörte Schritte. Gut. Irgendjemand kam, um zu helfen.
    Emma ging um die Ecke, weil sie an der Tür ihres Vaters horchen wollte. Wenn in seinem Zimmer alles ruhig war, konnte sie ihn ungestört schlafen lassen. Wenn irgendjemand bei einem solchen Lärm schlafen konnte, dann ihr Vater – was zweifellos auch der Grund dafür war, dass sie es gewohnt war, in den seltenen Fällen nächtlicher Schreie in ihrer Internatsschule aus dem Bett zu springen.
    Während Emma noch vor der Zimmertür ihres Vaters stand und lauschte, erschien oben auf der Treppe eine Gestalt, eine Lampe in der Hand.
    Henry Weston, in Hemdsärmeln und Hose. Henry Weston, der das Licht in ihre Richtung drehte, als wolle er sich versichern, dass niemand da war, und der sie auf der leicht zurückgesetzten Schwelle zum Zimmer ihres Vaters nicht sehen konnte.
    Er drehte sich um und lief den Flur entlang bis zum Ende, wo er abbog und in Richtung Nordflügel aus ihrem Blickfeld verschwand. Es war das zweite Mal, dass sie ihn nachts dorthingehen sah.
    Emma überlegte, wo wohl die Penberthys untergebracht waren. Bestimmt war Henry nicht auf dem Weg zu Tressa Penberthys Zimmer. Dafür war er nicht gekleidet. Außerdem kam der Schrei, wenn sie sich nicht irrte, nicht von einer Frau.
    Emma hatte keine Kerze dabei und konnte nur hoffen, nicht gegen ein unerwartetes Hindernis zu laufen – insbesondere ein Hindernis namens Henry Weston.
    Am Ende des Flurs spähte sie um die Ecke. Hier war es dunkel, das Licht der Lampe auf dem Treppenabsatz reichte nicht bis hierher.
    Was mache ich hier eigentlich? , fragte sich Emma nervös. Ich sehe nur nach, ob jemand meine Hilfe braucht , versuchte sie sich zu beruhigen. Dann gehe ich wieder ins Bett. Doch diese vernünftigen Gedanken vermochten es nicht, ihre irrationale Angst vor dem dunklen Flur, dem verbotenen Flügel und vor Henry Weston vollständig einzudämmen.
    Der Wind heulte, das Haus erbebte förmlich unter seinem Ansturm. Abermals zerriss ein Schrei, wie eine Antwort auf den Sturm, die Dunkelheit. In ihren Ohren klang er wie der Schrei eines verängstigten Kindes. Doch es waren keine Kinder auf Ebbington Manor. Vielleicht war es die Jugendlichkeit der Stimme, die ihr den Mut gab, weiter den dunklen Flur entlangzugehen, sich durch den Geruch von Staub und unbenutzten Zimmern zu tasten.
    Sie nieste und blieb stehen, voller Angst, dass eine Tür aufgehen würde und Schritte auf sie zukämen … Doch sie hörte nichts, ihr

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