Die Tochter des Magiers
Leben.«
»Es würde dich nichts kosten, etwas weniger waghalsig zu sein.«
Einen Augenblick lang schauten sie sich an. In seinen Augen
lag ein merkwürdiger Ausdruck, der ihr ganz fremd war. »Du irrst dich«,
sagte er ruhig und ging davon.
Roxanne mußte sich zwingen, ihm nicht nachzulaufen und ihn
anzuflehen, damit aufzuhören. Doch sie wußte, daß es sinnlos wäre. Und
Luke hatte recht. Das, was sie taten, war ihr Leben, obwohl Lily zum
Beispiel die Diebstähle keineswegs billigte und schon gar nicht
verstand, warum Max solche Risiken einging. Aber mit Lukes
Entfesselungsnummern würde sie sich genauso abfinden müssen.
Er würde immer der einsame Wolf sein, wie LeClerc ihn vor
vielen Jahren einmal genannt hatte. Er würde das tun, was ihm paßte und
seinen Weg gehen. Als ob er sich ständig etwas beweisen müßte, dachte
sie.
Aber das half ihr auch nicht weiter. Wenn sie ehrlich war,
erging es ihr wie Lily – sie hatte eine Heidenangst vor dem
Finale der heutigen Show.
Weder Max noch Lily bemerkten, wie nervös sie war. Nach außen
konnte sie ihre Aufregung beherrschen. Das war eine Frage der
Willenskraft. Aber es gelang ihr nicht, die Bilder zu verdrängen, die
ihr immer und immer wieder durch den Sinn gingen.
In endlosen Wiederholungen sah sie vor sich, wie Luke unter
Wasser in einem Glaskasten gefangen war – und vergeblich darum
kämpfte, sich zu befreien.
Es ist mal wieder der Höhepunkt der Show,
dachte Max, als das Scheinwerferlicht hinüber zu Luke schwenkte.
Niemand, nicht einmal Lily, wußte, was es ihn gekostet hatte, Luke das
Finale zu überlassen. Aber es ist Zeit, dachte Max, meinen Platz der
Jugend zu räumen. Und der Junge ist so talentiert, so besessen. Er
versteht es, das Publikum zu fesseln.
Max lächelte über diese Gedanken, während der Vorhang sich hob
und die gläserne Kammer sichtbar wurde. Luke hatte sie selbst
entworfen, die Form, die Glasscheiben, sogar die Messingbeschläge in
Gestalt von Zauberern und Hexen. Luke wußte exakt, wieviel Wasser sie
enthalten mußte, so daß sie bis an den Rand gefüllt war, wenn er
gefesselt hineingesenkt wurde.
Er wußte auf die Sekunde genau, wieviel Zeit er benötigte, um
sich von den Ketten, den Handschellen und den Fesseln zu befreien, mit
denen er an die Seitenwände gekettet wurde. Und er wußte, wieviel
Gnadenfrist ihm bleiben würde, falls etwas schiefging.
Roxanne stand neben der Kammer. Sie hatte das Kostüm
gewechselt und war nun ganz in Weiß gekleidet. Trotz ihrer Aufregung
lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie Luke das Hemd abstreifte, so
daß er bis zur Taille nackt war.
Sie achtete nicht auf die Narben, die seinen Rücken überzogen.
Nicht einmal in all den Jahren hatte sie sie erwähnt, da sie wußte
welche demütigenden Erinnerungen er mit ihnen verband.
Zwei Freiwillige aus dem Publikum legten ihm schwere Ketten
an, seine überkreuzten Arme wurden vor der Brust zusammengebunden, die
stählernen Handschellen angelegt, seine bloßen Füße an eine Holzplatte
gekettet.
Zu den leisen, unheilvollen Klängen einer Cellomusik stieg die
Plattform, auf der Luke stand, in die Höhe, während er zu reden begann.
»Es heißt, daß der große Houdini infolge der Verletzungen, die
er sich bei dieser Nummer zugezogen hat, ums Leben gekommen ist. Seit
seinem Tod ist es der besondere Ehrgeiz jedes Entfesselungskünstlers,
diese Nummer zu wiederholen und die Herausforderung erfolgreich zu
bestehen.«
Er blickte hinab zu Mouse, der verlegen in seiner arabischen
Tracht auf der Bühne stand und einen riesigen Hammer in der Hand hielt.
»Wir werden hoffentlich die starken Muskeln meines Freundes nicht
benötigen, um das Glas zu zerschlagen.« Er blinzelte Roxanne zu. »Aber
vielleicht brauche ich die schöne Roxanne für eine
Mund-zu-Mund-Beatmung.«
Roxanne achtete kaum auf seine Worte, aber das Publikum
applaudierte lachend.
»Wenn ich in die Kammer versenkt worden bin, wird sie
luftdicht versiegelt.« Das Publikum hielt den Atem an, als die
Plattform umgedreht wurde. Luke hing jetzt mit dem Kopf nach unten über
dem Wasser. Er begann, mit tiefen Atemzügen seine Lungen zu füllen.
Roxanne übernahm die weiteren Erläuterungen.
»Wir bitten um absolute Ruhe während der Nummer. Richten Sie
Ihre Aufmerksamkeit auf die Uhr.« Ein Scheinwerfer beleuchtete eine
große Uhr hinter der Bühne. »Sie sehen darauf die Sekunden
verstreichen, sobald Callahan in die Kammer eingetaucht ist.« Luke
wurde zentimeterweise auf die
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