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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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zunächst meine Lun‐
    gen mit etwas Luft. Das zahme Reh mit dem Halsband stand im
    Zaungatter am Ende des Wegs. Ich versuchte es aus dem Weg zu schubsen, aber es lehnte sich gegen mich und wollte sich nicht weg-schubsen lassen. Also kletterte ich über den Zaun, ging zurück zu meinem Chrysler und fuhr wieder in die Stadt.
    In Pattons Polizeipräsidium brannte eine Hängelampe, aber die
    Bude war leer und das ›Zurück in zwanzig Minuten‹‐Schild klebte noch immer an der Innenseite des Türfensters. Ich stiefelte weiter zum Bootsanlegeplatz und hinunter zum Ufer des verlassenen Ba-destrands. Ein paar Tuckerkähne und Rennboote alberten immer
    noch über das seidige Wasser. Am anderen Ufer begannen winzige
    gelbe Lichter in Spielzeughütten an Miniaturhängen zu leuchten. Im
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    Nordwesten, tief über der Silhouette der Berge, schimmerte ein ein‐
    zelner heller Stern. Ein Rotkehlchen saß auf dem Wipfel einer hun‐
    dert Fuß hohen Fichte und wartete darauf, daß es dunkel genug für
    sein Gutenachtlied würde. Nach einer Weile war es dunkel genug, und es sang und verschwand dann in den unsichtbaren Weiten des
    Himmels. Ich schnippte meine Zigarette ein paar Schritte weit ins bewegungslose Wasser und kletterte zurück in meinen Wagen und
    fuhr wieder in Richtung Little Fawn Lake los.

    Das Gatter an der Privatstraße war mit einem Vorhängeschloß ver‐
    sperrt. Ich parkte meinen Chrysler zwischen zwei Fichten, kletterte
    über das Gatter und schlich auf leisen Sohlen am Straßenrand entlang, bis ich auf einmal den Schimmer des kleinen Sees zu meinen Füßen aufleuchten sah. Das Blockhaus von Bill Chess war dunkel.
    Die drei anderen Häuser bildeten scharfe Schatten gegen die bleichen Granitfelsen. Wo das Wasser über den Damm sickerte, glänzte
    es weiß; es floß lautlos über die glitschige Oberfläche hinunter zum
    Bach. Ich lauschte und hörte nicht ein Geräusch.
    Die Eingangstür des Chess‐Hauses war verschlossen. Ich tastete
    mich zum Hintereingang vor und stieß dort auf ein Unding von
    einem Vorhängeschloß. Ich schlich die Wände entlang und tastete die Fensterläden ab. Sie waren alle verriegelt. Ein etwas höher gelegenes Fenster hatte keine Läden, es war ein kleines einfaches Dop-pelfenster mitten auf der Nordseite. Es war ebenfalls verschlossen.
    Ich blieb ruhig stehen und verschwendete einige weitere Zeit aufs Lauschen. Kein Hauch bewegte die Luft, und die Bäume waren so still wie ihre Schatten.
    Ich versuchte es mit einem Messer, das ich zwischen die Flügel des
    kleinen Fensters zwängte. Ging nicht. Der Riegel gab nicht nach. Ich
    lehnte mich gegen die Wand, überlegte einen Augenblick, nahm
    dann kurz entschlossen einen großen Stein und wuchtete ihn gegen
    die Stelle, wo sich die beiden Fensterrahmen in der Mitte trafen. Der
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    Riegel brach mit einem ächzenden Geräusch aus dem trockenen
    Holz. Die Fensterflügel verschwanden innen im Dunkeln. Ich zog
    mich hoch auf den Sims, stemmte ein Bein ins Fenster und zwängte
    mich durch die Öffnung. Ich ließ mich in die Dunkelheit gleiten, stand auf und keuchte ein wenig nach dieser sportlichen Übung in
    der Höhenluft. Wieder lauschte ich.
    Ein aufflammender Lichtstrahl traf mich voll in die Augen.
    Eine äußerst ruhige Stimme sagte: »Ich würde da hübsch ruhig
    stehenbleiben, mein Sohn. Sie müssen ja ganz außer Puste sein.«
    Der Lichtstrahl drückte mich gegen die Wand wie eine zerquetsch‐
    te Fliege. Dann klickte ein Lichtschalter, und eine Tischlampe leuch‐
    tete auf. Der Lichtstrahl erlosch. Jim Patton saß in einem alten brau‐
    nen Sessel neben dem Tisch. Ein braunes Tuch mit Fransen hing über den Tischrand und berührte seine Knie. Er trug die gleichen Sachen, die er nachmittags angehabt hatte, dazu eine Lederjoppe, die einst neu gewesen sein mußte, wahrscheinlich während Präsident Grover Clevelands∗ erster Amtszeit. Seine Hände waren, von der Taschenlampe abgesehen, leer. Seine Augen waren leer. Seine Kinnbacken malten im sanften Rhythmus.
    »Was haben Sie vor, mein Sohn – mal abgesehen vom Einbrechen
    und unbefugten Eindringen.«
    Ich griff mir einen Stuhl, stellte ihn rücklings hin, stützte meine Hände auf die Lehne und sah mich in der Hütte um.
    »Ich hatte da so eine Idee«, sagte ich. »Die sah ’ne Weile ganz nett
    aus, aber jetzt glaube ich, sollte ich sie mir besser abschminken.«
    Die Hütte war innen größer, als sie von außen gewirkt hatte. Der
    Raum, in dem wir waren, war das

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