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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Innensei‐
    te seines Handgelenks zu schauen, »… um dreiundzwanzig Minu‐
    ten nach vier anzumelden.«
    »Genau das hab ich mir gedacht«, sagte Degarmo. »Deshalb wollte
    ich Sie auch gar nicht belästigen. Verstehen Sie’s jetzt?« Er zog seine Marke aus der Tasche und hielt sie so, daß im Licht ihr goldblaues
    Emaille schimmerte. »Ich bin Lieutenant der Polizei.«
    Der Angestellte zuckte zusammen. »Sehr wohl. Ich hoffe, es wird
    keine Unannehmlichkeiten geben. Vielleicht ist es doch besser, wenn
    ich Sie erst anmelde. Wie war doch Ihr Name.«
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    »Lieutenant Degarmo und Mr. Marlowe.«
    »Apartment 716. Das müßte Miss Fromsett sein. Einen Augenblick.«
    Er ging hinter seine Glasscheibe, und nach einer längeren Pause hörte man ihn durchs Telefon sprechen. Er kam zurück und nickte.
    »Miss Fromsett ist zu Hause. Sie wird Sie gleich empfangen.«
    »Na, da fällt mir ja ein Stein vom Herzen«, sagte Degarmo. Und sparen Sie sich die Mühe, Ihren Hausschnüffler zu rufen und ihn rauf in die gute Stube zu schicken. Ich reagiere allergisch auf Hausschnüffler.«
    Der Angestellte lächelte schwach und frostig, und wir stiegen in den Lift.
    Im siebten Stock war es kühl und ruhig. Der Flur schien eine Meile
    lang zu sein. Schließlich kamen wir zur Tür mit der Nummer 716, goldne Zahlen in einem Kranz goldner Blätter. Neben der Tür war ein Elfenbeinknopf. Degarmo drückte darauf, drinnen ertönte ein
    Glockenspiel, dann wurde geöffnet.
    Miss Fromsett trug einen gesteppten blauen Schlafrock über ihrem
    Pyjama. Ihre Füße steckten in kleinen Slippern mit Quasten und hohen Absätzen. Ihr dunkles Haar war locker und einladend nach hinten gebürstet, sie hatte sich die Coldcreme aus dem Gesicht ge-wischt und ein wenig Make‐up aufgelegt.
    Wir folgten ihr in einen eher schmalen Raum mit mehreren hüb‐
    schen ovalen Spiegeln und grauen Stilmöbeln mit blauen Damastbe‐
    zügen. Sie sahen nicht wie das übliche Apartmenthausmobiliar aus.
    Sie setzte sich auf ein zerbrechliches kleines Sofa, lehnte sich zurück und wartete ruhig darauf, daß jemand etwas sagte.
    Ich sagte: »Das ist Lieutenant Degarmo von der Polizei in Bay Ci‐
    ty. Wir suchen Kingsley. Zu Hause ist er nicht. Wir dachten, Sie hät‐
    ten vielleicht eine Idee, wo wir ihn finden könnten.«
    Sie antwortete mir, ohne mich anzusehen: »Ist es dringend?«
    »Ja, es ist etwas passiert.«
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    »Was ist passiert?«
    Degarmo sagte grob: »Wir wollen bloß wissen, wo er steckt,
    Schwester, und wir haben keine Zeit für das Getue drumherum.«
    Das Mädchen sah ihn völlig ausdruckslos an. Dann blickte sie zu
    mir und sagte:
    »Sie sollten mir es lieber erklären, Mr. Marlowe.«
    »Ich bin mit dem Geld hingegangen«, sagte ich. »Ich habe sie wie
    verabredet getroffen. Dann ging ich in ihre Wohnung, um mit ihr zu
    sprechen. Dort bin ich von einem Mann niedergeschlagen worden,
    der sich hinter einem Vorhang versteckt hatte. Ich hab ihn nicht er‐
    kennen können. Als ich wieder zu mir kam, war sie ermordet.«
    »Ermordet?« Ich sagte: »Ermordet.«
    Sie schloß ihre schönen Augen und zog ihre hübschen Mundwin‐
    kel ein. Dann stand sie mit einem jähen Schulterzucken auf und ging
    zu einem kleinen dünnbeinigen Marmortischchen. Sie nahm eine
    Zigarette aus einer kleinen Silberdose, zündete sie an und blickte mit leeren Augen auf den Tisch hinunter. Ihre Hand bewegte das Streichholz mit immer langsamer werdenden Bewegungen hin und
    her, hielt dann ein und warf das immer noch brennende Holz in den
    Aschenbecher.
    Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den
    Tisch.
    »Vermutlich müßte ich jetzt schreien oder so was ähnliches«, sagte
    sie. »Aber im Augenblick bin ich vollkommen ohne jegliches Ge‐
    fühl.«
    Degarmo sagte: »Im Augenblick sind uns Ihre Gefühle ziemlich
    schnuppe. Uns interessiert nur, wo Kingsley steckt. Sie können’s uns
    sagen oder es bleiben lassen. Auf jeden Fall können Sie sich jedes Theater schenken. Sie brauchen sich bloß zu entscheiden.«
    Ruhig sagte sie zu mir: »Der Lieutenant ist aus Bay City, nicht wahr?«
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    Ich nickte. Sie wandte sich langsam zu ihm, schön gelassen, voller
    Verachtung. »In diesem Fall«, sagte sie, »ist er mit keinem größeren
    Recht in meiner Wohnung als jeder andere Flegel mit einem großen
    Mundwerk, der sich aufzuspielen versucht.«
    Degarmo sah sie finster an. Dann grinste er, marschierte durchs Zimmer, und streckte schließlich seine langen Beine aus einem

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