Die Tote
oder der Vater oder beide hätten es in Panik einfach in die Ihme werfen wollen. Schließlich war das nicht so außergewöhnlich wie der Fall, mit dem sie es jetzt zu tun hatten.
Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Sonntagnacht starb am Kröpcke eine unbekannte Frau, die erst vor wenigen Wochen niedergekommen war, und etwa zur gleichen Zeit versuchte irgendjemand, die Leiche eines wenige Wochen alten Säuglings loszuwerden, von dessen Herkunft sie ebenfalls keine Ahnung hatten. Da gab es vielleicht einen Zusammenhang, aber wahrscheinlich hatten das tote Kind und die tote Frau gar nichts miteinander zu tun.
Und was hatte es mit dem Verschwinden von Alina Wildner auf sich? Sie wussten es nicht. Sie wussten rein gar nichts, und das machte Charlotte furchtbar wütend. Und wenn sie wütend war, musste sie etwas tun.
Die Pressekonferenz, die Ostermann am frühen Abend mit Charlotte abhielt, war alles andere als schmeichelhaft für die Ermittler. Sie konnten den Journalisten nur sagen, dass das Kind von der Ihme, so wurde es in der Presse genannt, vor circa drei Tagen durch Fremdverschulden gestorben war, sie keine Hinweise zu seiner Herkunft hatten und es von der Mutter keine Spur gab. Außerdem hatten sie noch keinerlei Hinweise zur Identität der Toten am Kröpcke.
Der Leiter der KFI bat die Bevölkerung dringend um Mithilfe. Hatte jemand in den letzten Tagen an der Stadionbrücke oder am Ihmeufer etwas Verdächtiges beobachtet? Konnte jemand Hinweise zu der Toten am Kröpcke geben? Wer hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag in der Innenstadt oder in der Stadtbahn eine junge Frau beobachtet, die nur mit einem Nachthemd und einem Badetuch bekleidet war? Wer war der junge Mann vom Friedrich-Ebert-Platz? Wusste jemand etwas über den Verbleib von Alina Wildner?
Fragen konnten mit Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen nicht beantwortet werden. Die Konferenz war in weniger als zwanzig Minuten vorbei.
Ostermann ging gesenkten Hauptes zu seinem Büro, fast tat er Charlotte leid. Diese Geschichte drohte ihm seinen schönen Abschied kaputt zu machen.
Als Charlotte um kurz nach acht ihre Wohnungstür von innen schloss, war alles still. Unter der Küchentür drang ein Lichtstreifen in den dämmrigen Flur. Im Wohnzimmer war es ruhig, und aus Jans Zimmer drang ebenfalls kein Laut. Charlotte warf ihren Schlüssel in das Körbchen auf der Garderobe und ging in die Küche. Ihre Mutter saß am Tisch. Vor sich eine Tasse mit einer hellen Flüssigkeit. Charlotte tippte auf Pfefferminztee. Mutter Wiegand wandte ihr langsam ein ernstes Gesicht zu.
»Ach, Charlotte«, sagte sie leise, »ich hätte nie gedacht, dass es mal so enden würde. Wir … dein Vater und ich, hatten uns so viel vorgenommen, wollten reisen und … wir hatten ja auch immer gehofft, dass du uns noch mal zu Großeltern machen würdest, aber na ja.« Sie winkte ab, bevor Charlotte etwas sagen konnte. »Und jetzt … jetzt steh ich vor den Scherben meiner Ehe. Was soll ich denn jetzt bloß machen?«
Sie kramte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab, die über ihre faltigen Wangen liefen. Charlotte schloss die Tür und setzte sich neben ihre Mutter an den Tisch.
»Mama, findest du nicht, dass du überreagierst? Du weißt doch gar nicht wirklich, ob Papa …« Charlotte wusste nicht, wie sie weiterreden sollte, aber ihre Mutter vollendete den Satz für sie: »… fremdgeht. Du kannst es ruhig aussprechen. Es wird dadurch auch nicht schlimmer.«
»Mama, weißt du das wirklich genau? Papa sagt, du spinnst.«
Ihre Mutter sah sie zornig an. »Natürlich sagt er das. Er will ja keine Scheidung, das würde unsere ganzen Ersparnisse durcheinanderbringen.«
Charlotte schluckte. »Willst du das denn? Eine Scheidung?«
Mutter Wiegand schwieg eine Weile und umklammerte ihre Tasse. »Nein, natürlich nicht«, flüsterte sie dann, »aber was bleibt mir denn übrig? Mit einem Mann, der in aller Öffentlichkeit mit anderen Frauen …«
»Was mit anderen Frauen?«, unterbrach sie Charlotte.
Ihre Mutter zog die Schultern hoch. »Sie waren in diesem Bistro in der Innenstadt, ich hab sie durchs Fenster gesehen. Deinen Vater und diese … Person.«
»Was für eine Person? Und was genau hast du gesehen?« Charlotte wurde langsam nervös. Am Ende bildete ihre Mutter sich doch nicht alles nur ein.
»So eine Blonde, Großgewachsene, genau wie damals. Sie hatten wohl eine Verabredung, und ich hab gesehen, wie sie sich umarmt haben.«
»Aha.«
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