Die Tränen des Herren (German Edition)
diskutierten.
Währenddessen saß Jocelin in der bedrängend stillen, lichtlosen Nacht des Klosterkellers und versuchte, seine ebenso finsteren Gedanken zu ordnen. Bruder Cölestinus war nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich hatte der Abt ihn sofort in Gewahrsam nehmen lassen.
Dann würde es nicht mehr lang dauern, bis die Söldner der Inquisition ihn aufgriffen.
Sein Zufluchtsort hatte sich als Gefängnis entpuppt.
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Abt Gauthier hatte sich vorgenommen, den unbequemen Flüchtling an Inquisitor Imbert zu übergeben. So schnell wie möglich. Doch bald begann die Vesper, also danach...
Auf dem Weg zur Kirche überlegte der Abt, dass es anschließend wohl schon zu spät wäre, Imbert zu benachrichtigen. Gewiss hatte die Angelegenheit bis morgen Zeit.
Der Abt gestand sich ein, dass ihm die Auslieferung Unbehagen bereitete. Die Predigt, die er am Morgen über den barmherzigen Samariter gehalten hatte, wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen.
„Helfen wir einander!“ waren seine Worte gewesen. „Stehen wir unseren Brüdern bei, die in Bedrängnis, in Anfechtung sind, die die Last ihres Dienstes beschwert, die krank oder alt sind! Helfen wir ohne zu säumen, mit der Kraft unseres Gebetes und unserer Hände. Ja, vielleicht müssen wir dabei etwas abweichen von dem Weg, den wir gerade im Begriff waren zu gehen. Aber tat das nicht auch der Samariter? Er verließ die Straße um dem Überfallenen zu helfen. Ohne Zweifel hatte er ein Ziel, das er erreichen wollte, einen Auftrag, ein Pflicht, die ihn mahnte, auf dem schnellsten Weg vorwärts zu kommen. Doch er wich ab von dieser Pflicht, die ihm Menschen auferlegt hatten, um der Pflicht zu gehorchen, die Gott ihm ins Herz gelegt hatte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Christus hat uns gesagt, liebet einander, daran soll die Welt euch erkennen!“
Gauthier ballte die Hände zusammen. Er liebte die Brüder seines Klosters! Sollte er sie etwa in Gefahr bringen wegen eines Fremden?! Aber hatte nicht auch der Samariter einem Unbekannten geholfen? Es war gerade, als wollte Gott ihn prüfen, wie weit er zu seinen eigenen Worten stand! Der Abt vermochte sich nicht auf seine Gebete zu konzentrieren.
Er sah zu Bruder Cölestinus. Auch er war nicht recht bei der Sache. In all den Jahren hatte Gauthier noch nicht erlebt, dass etwas den Gleichmut des alten Bruders gestört hätte.
Die Sorge um Cölestinus war es schließlich, die Abt Gauthier veranlasste, seine Entscheidung zu fällen. Nach dem Abendgebet ließ er den Küchenmeister zu sich kommen.
„Du hast unbedacht gehandelt, mein Sohn. Du hast deine Brüder und die Abtei in große Gefahr gebracht!“
Seine strenge Stimme erfüllte den Raum mit einschüchternder Macht.
Der alte Mönch kniete mit etwas Mühe nieder. „Ich bitte um Vergebung, Vater!“
„Der allmächtige Gott erbarme sich deiner und vergebe dir deine Schuld!“ Der Abt machte das Kreuzzeichen und hob Bruder Cölestinus auf.
„Gehe jetzt und sage unserem... Gast, dass die Abtei Saint Germain de Près ihm Schutz gewährt, solang es in meiner Befugnis steht.“
Bruder Cölestinus‘ Augen leuchteten auf. Mit einer Geste tiefster Ehrerbietung küsste er den Ring des Abtes. Vater Gauthier konnte nicht umhin, Cölestinus um dieser kindlichen Freude willen zu beneiden. Er selbst würde die Nacht mit der Überlegung zubringen müssen, auf welche Weise er bei der morgendlichen Kapitelsitzung die Brüder von seinem Entschluss überzeugte. Er musste sie ausnahmslos für sich gewinnen, dass keiner mehr zum Denunzianten werden wollte. Und er musste etwas über den Prozess gegen die Templer in Erfahrung bringen, um zu bestimmen, wie weiter mit dem Flüchtling zu verfahren sei...
Jocelin hatte Bruder Cölestinus‘ Nachricht angehört ohne Freude oder Erleichterung zu empfinden. Man gewährte ihm Zuflucht, solang es dem Abt beliebte...
Und wenn er sich eines anderen besann? Nach den vergangenen Tagen in einsamer, untätiger Finsternis, die nur Cölestinus Besuche durchbrachen, begann Jocelin sich zu fragen, was schlimmer war: die ständige Bedrohung durch die Auslieferung oder dem Inquisitor gegenüberzustehen. Auf die eine oder die andere Art war er ein Gefangener.
In Begleitung des Kommandanten der Pariser Stadtwache und einer stattlichen Truppe königlicher Söldner stand Guillaume de Nogaret vor Saint Germain de Près.
Eilig hatte man den Abt geholt, und nun blickte Vater Gauthier bis in die Tiefen seiner Seele entsetzt in Nogarets unbarmherziges
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