Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Ingvilds Hand durch mein Fell, sie zupfte ein paar Grashalme von meinem Bauch, und ich genoss diese stille Art der Körperpflege. Torleif paffte an seiner Pfeife und schaute den Schwalben hinterher, die über unseren Köpfen Flugkunststücke veranstalteten.
»Da kommt Magnus«, sagte Ingvild, als sie auf dem Pfad, der vom Tal heraufführte, die wohlbekannte Gestalt ihres Bruders entdeckte.
»Das gibt doch wieder Unfrieden«, brummte Torleif.
»Magnus hat eben einen Hitzkopf«, erwiderte Ingvild.
»Ja, der ihm nur Ärger einbringt.«
»Aber er hat ein gutes Herz.«
Sie schwiegen und sahen Magnus entgegen.
»Hei, Magnus«, sagte Torleif.
»Torleif«, sagte Magnus und nickte seinem Schwager zu. »Was machen die Kühe?«
»Muuuuh«, rief Guri dazwischen, die im selben Moment mit ausgebreiteten Armen wie ein Flugzeug um die Hausecke sauste. Sie sprang ihrem Onkel in die Arme. »Hei, Onkel Magnus.«
Er hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis, dass sie nur so juchzte.
»Na, mein kleiner Wirbelwind. Und was machen die Hühner?«
»Putt-putt-putt.«
»Genau. Genau das machen sie.«
»Wir werden Mulla schlachten müssen«, sagte Torleif plötzlich. »Sie erholt sich nicht.«
Magnus stellte Guri wieder auf die Füße und sah seinen Schwager fragend an. Torleif zuckte die Achseln.
»Nein!«, schrie Guri laut dazwischen. »Das dürft ihr nicht. Sie wird bestimmt wieder gesund.«
»Guri, komm her, Schatz«, sagte Ingvild und zog ihre Tochter zu sich heran. »Du weißt, dass das der Lauf der Dinge ist. Menschen und Tiere werden geboren, und irgendwann müssen sie sterben.«
»Aber nicht Mulla!«
»Doch, auch Mulla.«
Guri riss mich aus der Hand ihrer Mutter und drückte ihre Nase in mein Fell. »Nicht Mulla«, flüsterte sie in mein Ohr. »Nicht Mulla.«
Ich versuchte mich weich und anschmiegsam zu machen. Ihr Atem kitzelte.
»Ich sehe sie mir noch einmal an, bevor ich gehe«, sagte Magnus. »Versprochen.«
»Danke«, sagte Ingvild. »Das ist lieb.«
»Und, was macht euer … Gast?«, fragte Magnus. Das Wort Gast betonte er nach einer kleinen theatralischen Pause ironisch.
Er meinte Friedrich, das wusste ich wohl. Ich wusste auch, dass Magnus auf die Deutschen nicht gut zu sprechen war, wen wunderte es? In seinen Äußerungen erkannte ich Nicolas und Maurice wieder – Sätze, durchdrungen von Unsicherheit und Wut, vom Wunsch nach Auflehnung, von Hilflosigkeit und mir eigentlich wie aus dem Herzen gesprochen. Friedrich, der Wehrmachtssoldat, war hier, um den Menschen den deutschen Willen aufzuzwingen, als Gast konnte man ihn wohl kaum bezeichnen.
Magnus wollte seinem Ärger Luft machen. Torleif sagte: »Ich mach noch den hinteren Stall«, und trat den Rückzug an.
»Unser Gast heißt Friedrich«, sagte Ingvild leise.
»Friedrich der Große. Wie passend.«
»Magnus. Was soll das?«
»Sie wollen uns die Radios wegnehmen.«
Ingvild schwieg.
»Verstehst du denn nicht? Sie wollen uns entmündigen. Wir sollen nicht mehr mitbekommen, was in der Welt passiert. Wir sollen dumm bleiben. Dein Friedrich will, dass du dumm bleibst.«
»Er befolgt doch nur seine Befehle …«
»Und das nimmst du einfach so hin? Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Du weißt genau, auf wessen Seite ich stehe. Aber Friedrich ist nun mal bei uns einquartiert worden. Und wir brauchen das Geld.«
»Was du da sagst, grenzt an Landesverrat. Ich werde nicht zulassen, dass meine eigene Schwester gemeinsame Sache mit dem Feind macht.«
»Ich mache keine gemeinsame Sache. Ich lebe hier und Friedrich auch – vorübergehend. Das ist nun mal nicht zu ändern.«
»Er heißt Fritz«, sagte Guri dazwischen.
»Dein Fritz verdient eine Kugel durch den Kopf. Genau wie alle anderen Nazis auch«, polterte Magnus.
»Magnus. Ich verbiete dir, so vor meinem Kind zu sprechen. Was ist denn in dich gefahren?«
Ingvild strich sich energisch eine Strähne aus dem Gesicht und wandte sich an Guri.
»Geh und hilf deinem Vater, los jetzt.«
»Aber …«
»Nichts aber! Ab mit dir, ich habe mit Onkel Magnus ein Hühnchen zu rupfen.«
Guri ließ mich zurück auf die Bank fallen und trollte sich mit vorgeschobener Unterlippe und unter stetigem Protest.
Magnus hatte keinerlei Veranlassung, Friedrich, den Menschen, irgendwie von Friedrich, dem Besatzungssoldaten, zu trennen, doch Ingvild hatte ein wenig davon durchscheinen sehen. Sie hätte nie mit den Deutschen gemeinsame Sache gemacht. Die Haugoms hatten die Einquartierung Friedrichs
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