Die unsterbliche Braut
öffnete die Augen. James stand gegen die Wand gelehnt, die Hände in die Taschen geschoben und das Haar vollkommen zerwühlt. Es war eine unheimliche Erleichterung, ihn das aussprechen zu hören, wovon ich mich selbst die ganze Zeit zu überzeugen versuchte, und ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
Er erwiderte es nicht. „Calliope hat das seit langer Zeit geplant, und als sie Kronos erst mal aufgeweckt hatte, hätte nichts sie mehr aufhalten können. Sie will deinen Tod. Sie will uns alle sterben sehen. Schon lange bevor du geboren wurdest, hat sie aufgehört, rational zu denken. Und egal, wie sehr du dir selbst die Schuld dafür gibst, daran wird sich nichts ändern.“
Mir wurde das Herz schwer. So standen die Dinge also – irgendwann würde ich mich ihr stellen müssen, egal, wie das hier ausging. Wenn der Rat recht hatte, wenn Calliope und Kronos wirklich nicht aufzuhalten waren, wenn wir sowieso alle sterben würden …
Ich wollte es nicht. Mit jeder Faser meines Seins kämpfte ich dagegen an, und beim Gedanken an das, was sie mit mir anstellen würde, wurde mir wieder schwindlig. Aber was, wenn das die einzige Lösung war? Was, wenn das der einzige Weg war, Calliope dazu zu bewegen, Kronos wieder zu unterwerfen? Wenn sie wirklich mit den anderen im Krieg gegen die Titanen gekämpfthatte, dann musste irgendwo in ihr noch der Teil von ihr stecken, der genug Mitgefühl empfunden hatte, um ihre eigene Existenz für die Menschheit aufs Spiel zu setzen. Und so aufgebracht und gedemütigt sie auch sein mochte: Vielleicht wäre mein Kopf auf einem Silbertablett genug, damit sie ihre Meinung änderte.
Als letzter Ausweg, dachte ich. Nur als letzter Ausweg.
Wenn es so weit kam und offensichtlich wurde, dass ich diesen Albtraum beenden könnte, wenn ich mein Leben aufgab … Ich wollte selbstsüchtig sein und leben, aber ich konnte nicht einfach rumstehen und zusehen, wie alle anderen meinetwegen abgeschlachtet wurden. Ich war mir nicht sicher, welche Option selbstsüchtiger war, aber wenn es in meiner Macht stünde, das hier zu beenden, würde ich das nicht ignorieren. Sosehr ich mir auch wünschte, ich könnte vergessen, dass die Möglichkeit überhaupt bestand.
So oder so musste ich sie erst einmal finden. „Wie komme ich dahin?“, wollte ich wissen. „An den Ort, wo Calliope und Kronos sind. Ich weiß, ihr wollt nicht, dass ich gehe, aber …“
„Du gehst ja doch, selbst wenn ich’s dir nicht verrate“, seufzte James. „Ich weiß nicht, wo es ist – ehrlich. Niemand weiß das. Die sechs können das Gefängnis finden, aber sie haben dafür gesorgt, dass ich es nicht kann, und vor den anderen haben sie es aus offensichtlichen Gründen geheim gehalten. Die einzige andere Person, die den Weg kannte, war …“ Er hielt inne.
„Wer?“, bohrte ich nach. „Bitte, James, es ist mir egal, was ich tun muss. Ich marschiere durch die gesamte Unterwelt, wenn es sein muss.“
„Das weiß ich“, erwiderte er und lächelte gezwungen. „Das liebe ich so an dir. Aber, Kate, du musst verstehen …“
„Was ich verstehe, ist Folgendes: Wenn nicht jemand versucht, sie aufzuhalten, werden Calliope und Kronos die Welt zerstören, und alle werden sterben“, unterbrach ich ihn. „Ist mir egal, was ich tun muss. Ich mach’s.“
James seufzte. „Die einzige andere Person, die weiß, wo das Tor ist …“ Wieder zögerte er. „… ist Persephone.“
6. KAPITEL
FEUERSEE
Persephone. Natürlich. Von allen Göttern, die jemals existiert hatten, und allen Personen, die je die Unterwelt beschritten hatten, musste es ausgerechnet sie sein.
Nervös rieb ich mir die verschwitzten Hände an den Oberschenkeln trocken und wünschte mir zum ersten Mal, ich hätte niemals von Eden gehört. Mein Leben wäre zerstört worden und meine Mutter mittlerweile tot, aber wenigstens würde nicht das Leben von Milliarden Menschen davon abhängen, dass ich meinen Stolz herunterschluckte und die eine Person aufsuchte, von der ich gehofft hatte, sie niemals treffen zu müssen. Die Person, die mein Ehemann immer noch liebte.
Meine Schwester.
„Gibt es denn nicht noch jemand anders?“, brachte ich krächzend hervor.
„Henry“, erwiderte James. „Aber der ist leider gerade anderweitig beschäftigt.“
Stumm funkelte ich ihn an. „Also, was passiert jetzt? Ich mache Persephone unter den Millionen von Seelen ausfindig …“
„Milliarden“, verbesserte James. „Wahrscheinlich. Ich hab nicht mitgezählt.“
„Also
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