Die Vampire
ignorierte ihn.
»Wing, Allard, Maranique«, sagte er, kein Wort zu viel. »Cund alls Streife wird vermisst. Wir müssen davon ausgehen, dass die Männer verloren sind.«
Am anderen Ende knarzte eine Stimme.
»Ja«, sagte Allard. »Alle.«
Ginger, Algy und Bertie waren angewidert. Es gehörte sich nicht, so etwas zu sagen, denn wenn man es laut aussprach, redete man das Unheil nur herbei. Wäre Allards rücksichtslose Offenheit nicht gewesen, hätten sie vergnügt und munter auf die Rückkehr ihrer Freunde gewartet, mit ein paar blauen Flecken und spannenden Geschichten von schwer erkämpften Siegen und tollkühnen Flugkunststückchen.
Allard legte den Hörer auf. An einer Schiefertafel waren die Seriennummern der Maschinen, die Namen der Piloten und die
Anzahl ihrer Triumphe aufgelistet. Schon jetzt stand unter mehreren Spalten mit weißer Kreide das Wort »vermisst«. Eine Spalte wurde erst gelöscht, wenn der Verlust bestätigt war. Allard setzte »vermisst« unter die mit »Ball«, »Bigglesworth«, »Brown«, »Courtney«, »Cundall« und »Williamson« überschriebenen Spalten. Das Kratzgeräusch der Kreide fuhr Kate durch Mark und Bein.
»Vergessen Sie Courtneys Superkargo nicht«, sagte Ginger mit düsterer Stimme.
Mit einem Nicken gestand Allard sein Versäumnis ein, gab dem Piloten jedoch zugleich zu verstehen, dass er bereits daran gedacht hatte. Er schrieb einen neuen Namen an die Tafel. »Winthrop«.
»Irgend so ein Knabe vom Diogenes-Club«, erklärte Bertie. »Armer Bursche. Gleich beim ersten Mal vom Himmel geholt zu werden.«
Kate wollte etwas sagen, besann sich jedoch eines Besseren. Dravot verzog keine Miene. Sie wusste, dass der Sergeant das Gefühl hatte - sofern er überhaupt etwas zu fühlen vermochte -, seine Pflicht vernachlässigt zu haben. Er sollte Charles’ Protegé beschützen und hatte kläglich versagt. Dravot musste bis ins Innerste getroffen sein.
Nun würde sich die Sache zwischen ihr und Edwin, die in Amiens begonnen hatte, nicht mehr ins Reine bringen lassen. Was hatte er auch in der Luft verloren? Er war Stabsoffizier, einer jener Schreibtischhengste, die Blut und Feuer nur vom Hörensagen kannten.
»Es wird eine Heidenarbeit, die Bande zu ersetzen«, sagte Ginger und betrachtete die Tafel. Die Anzahl der »Vermissten« überstieg die der aktiven Piloten. »Wir werden vermutlich einen ganzen Schwarm Yanks anfordern müssen. Nichts für ungut, Allard. Aber mit der Gemütlichkeit ist es vorbei.«
»Merken Sie sich ihre Namen am besten gar nicht erst«, riet Allard.
Ginger war am Boden zerstört.
Kate hatte so viele sterben sehen, in der Zeit des Schreckens wie auch jetzt im Krieg, dass es ihr nicht zustand, ausgerechnet diesen Verlust zu beklagen. Doch obgleich sie kein Recht dazu hatte, trauerte sie. Aus tiefstem, nach Blut lechzendem Herzen.
24
Stacheldraht und Fersengeld
Z u erschöpft, um wach zu bleiben, und zu schwer verletzt, um Schlaf zu finden, hing Winthrop wie ein Sonntagsbraten an der Wand. Bis auf den stechenden Schmerz in Schultern, Hals und Knien war sein Körper gänzlich taub. Seine Wahrnehmung war getrübt, und seine Gedanken wanderten.
Ball und er sollten wohl doch nicht gleich tranchiert und aufgefressen werden. Die Troglodyten saßen auf ihren Särgen und unterhielten sich. Jeder von ihnen trug seine Geschichte vor wie ein Lehrer, der seine Klasse mit ihrem Lieblingsmärchen belohnt. Jules, ein Österreicher, berichtete, wie er von seiner Einheit getrennt worden war.
Er hatte zahlreiche Gefahren überstanden, bevor er sich der Gruppe angeschlossen hatte. Jim, der Franzose, erzählte, wie er desertiert war, um dem Pfahl zu entrinnen, nachdem er eine Meuterei gegen General Mireau angezettelt hatte. Jim erinnerte sich voller Bitterkeit daran, wie sein patriotischer Eifer mit jeder neuen Ungerechtigkeit, Unterlassungssünde und Entgleisung nachgelassen hatte.
Winthrop verlagerte sein Gewicht. Messerscharfe Schmerzen spießten seine Schultern. Er unterdrückte ein Wimmern.
Er konnte den Deserteuren nicht folgen. Ihre langweiligen Geschichten von Entbehrung, Einsamkeit und Schrecken wurden immer wirrer. Vielleicht schmückten sie ihre Erzählungen von Mal zu Mal weiter aus, mit den beliebtesten Episoden aus den Geschichten der Gefallenen.
Obgleich es sich um eine Horde wilder Sozialisten handelte, herrschte in dieser Vampirgesellschaft eine strenge Hierarchie. Dafür, dass es laut Mellors keine Rangordnung mehr gab, fügten sich die anderen
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