Die verborgene Seite des Mondes
damit es nicht so aus sah, als würde er Julia hinterherlaufen. Als er endlich auch ver schwinden wollte, hatte Ada plötzlich noch eine Aufgabe für ihn. Sie bat Simon, auf einen Stuhl zu steigen und einen Karton für sie he runterzuholen, der ganz oben auf dem hohen Holzregal stand.
Simon, der in Gedanken schon bei Julia war, riss versehentlich ei nen anderen Karton mit herunter. Der Deckel löste sich und unzäh lige Papiere und Fotos fielen heraus. Sie flogen unter die Schränke, schwebten in die Vorratsfächer, unter den Herd und verteilten sich auf dem Boden.
Ada ließ einen entrüsteten Schrei hören. »Was zur Hölle ist eigent lich los mit dir, Junge?«, brüllte sie. »Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?«
»Ich glaube, er ist verliebt«, brummte Boyd von nebenan. Ada war so laut gewesen, dass selbst er ihre Frage verstanden hatte.
»Verliebt? In wen?« Die alte Frau starrte Simon an, als wäre das et was, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Nicht bei ihm, dem schweigsamen Einsiedler, dem Stotterer.
Ihm schoss die Hitze ins Gesicht.
»Schon gut«, sagte Ada, tiefe Falten auf der Stirn. »Ich will es gar nicht wissen.«
Erleichtert bückte Simon sich nach den Fotos, die überall herum lagen, und begann, sie in den Karton zu sammeln. Es waren Fotos von Ada als junger Frau. Auf einem davon trug sie einen Rock und lachte in die Kamera. Sie war hübsch und er erkannte die Ähnlich keit mit Julia.
Simon angelte gerade ein Foto unter dem Herd hervor, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. Es war Boyd, der neben ihm stand.
»Lass gut sein für heute«, sagte der alte Mann, »die Fotos laufen nicht weg. Aber die Kleine, die wartet sicher schon auf dich.«
Simon erhob sich und legte das Foto zu den anderen in den Kar ton. Dankbar sah er Boyd an.
»Nun geh schon. Du kannst den Rest morgen aufsammeln.«
Julia saß auf den Holzstufen vor ihrem Trailer und wartete auf Si mon. Seit sie ihn im Ranchhaus zurückgelassen hatte, waren nur ein paar Minuten vergangen und doch vermisste sie ihn schon. War das Liebe?
»Ach Pa«, flüsterte sie, »du wüsstest bestimmt eine Antwort.« Si mon tut mir so gut. Er braucht mich und ich brauche ihn. Ich wünschte, du könntest ihn kennenlernen. Bestimmt hättest du ihn gern.
Der Strahl einer Taschenlampe tauchte aus dem Dunkel. Simon kam den Weg entlang. Julia rutschte ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. Er erzählte ihr von seinem Missgeschick.
»Deine Granny w-eiß das mit uns.«
»Na und?«
»Ich fürchte, es gefällt ihr nicht.«
»Und warum glaubst du das?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ist so ein Gefühl.«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Hast du etwa Angst vor ihr?«
»Ein bisschen vielleicht. Sie k-ann in die Menschen hineinsehen, als hätte sie Röntgenaugen.«
»Mag ja sein. Aber sie hat nicht die Macht zu ändern, was sie sieht.«
Simon legte seinen Arm um Julias Schultern. »Ich habe Fotos von deiner Grandma gesehen, als sie nicht viel älter war als du«, sagte er. »Du siehst ihr ähnlich.«
»Oje«, entfuhr es Julia. Das war nicht gerade ein Kompliment.
Simon lächelte. »Sie war hübsch.«
»Aber jetzt sieht sie aus wie ein alter Baum.«
»Wenn ich mal fünfundsiebzig bin, möchte ich auch aussehen wie ein alter Baum.«
»Du magst sie tatsächlich.«
»Ich respektiere sie.«
»Sie sagt niemals Danke.«
»Nur zu den Menschen nicht. Der Erde dankt sie jeden Tag.«
Julia ahnte, dass Simon nie etwas Schlechtes über ihre Großmut ter sagen würde. Ada hatte ihm ein Zuhause gegeben und er würde ihr immer dankbar sein dafür. Vielleicht tat er deshalb alles, was sie von ihm verlangte.
Sie blickten beide in den Himmel, wo Millionen Sterne funkelten, so nah, wie Julia es noch nie zuvor erlebt hatte. In diesem Moment fiel eine Sternschnuppe, ein kleines, kurz aufleuchtendes Licht am
nächtlichen Himmel.
»Du darfst dir was wünschen«, sagte Julia.
»Du aber auch«, erwiderte er.
Julia glaubte zu wissen, was er sich wünschte. Der Gedanke löste ein nervöses Gefühl in ihr aus, das jedoch nicht unangenehm war. Sie schloss die Augen und wünschte sich ganz fest, wieder glücklich zu sein. Denn das, wonach sie sich am meisten sehnte, konnte nicht Wirklichkeit werden. Sie wollte ihren Vater wiederhaben und das würde nicht passieren.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Simon.
»Ja. Ich bin so froh, dass du da bist.«
Simon gab ihr einen sehnsüchtigen, bebenden Kuss. Sein Wunsch
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