Die verlorene Koenigin
Anita, mit euch beiden würde ich gern noch ein Wörtchen reden.«
Tania überraschte es nicht, dass Mr s Wiseman mit ihnen sprechen wollte. Sie hatten lausig gespielt.
Die Schwingtüren schlossen sich hinter dem letzten Schüler. Edric und Tania standen demonstrativ weit voneinander entfernt und sahen einander nicht an. Ihre Körpersprache wirkte linkisch und unnatürlich.
Mr s Wiseman saß auf einem Klappstuhl an der Wand und machte sich Notizen in ihr Textbuch.
Nach einigen Minuten, in denen Tania extra nicht zu Edric hinübersah und trotzdem merkte, dass er es ebenfalls vermied, sie anzusehen, hob Mr s Wiseman den Kopf und blickte von einem zum anderen. »Würdet ihr mir bitte verraten, was los ist?« Sie tippte auf das Textbuch. »Ich kann mich nicht erinnern, dass in den Regieanweisungen in der 5 . Szene des 3 . Akts irgendetwas davon steht, dass Romeo und Julia es nicht ertragen können, einander anzusehen. Ganz im Gegenteil. Zu dem Zeitpunkt sollten sie eigentlich wahnsinnig ineinander verliebt sein. Was war heute Nachmittag los?«
Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Mr s Wiseman seufzte: »Passt mal auf, wenn ihr beiden irgendwelche persönlichen Probleme miteinander haben solltet, dann seid so gut und klärt sie. Aber bitte schnell.«
»Tut mir leid«, sagte Edric. »Sie haben Recht. Ich wa r …«
»Es soll nicht wieder vorkommen«, unterbrach Tania ihn. »Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.«
Mr s Wiseman riss mit gespielter Überraschung die Augen auf. »Sorgen? Ich? In vier Tagen ist Premiere, die Hälfte der Kostüme ist noch nicht fertig, das Bühnenbild ist auch nicht komplett, und meine beiden Hauptdarsteller spielen die Liebesszenen, als stünden sie am Ende einer gescheiterten Ehe. Also, warum sollte ich mir wohl Sorgen machen? Alles wird gut und diese Produktion wird in die Geschichte eingehen. Es wird die erste Inszenierung von Romeo und Julia , in der die beiden Liebenden in der Schlussszene mit den Fäusten aufeinander losgehen.«
»Wir haben verstanden«, sagte Tania gereizt.
»Freut mich.« Mr s Wiseman blickte wieder auf ihr Textbuch und gab den beiden mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie entlassen waren. »Mittwoch, halb vier. Und versucht wenigstens, so zu tun, als hättet ihr euch gern.«
Tania ging zur Tür. Sie war sich mit jeder Faser ihres Körpers bewusst, dass Edric ein paar Schritte hinter ihr lief. Sie fühlte sich wie ein verfolgtes Tier, das weiß, dass Gefahr droht; ihr Gesicht brannte und ihr Magen verkrampfte sich zu einem schmerzenden Knoten. Ungeschickt fummelte sie am Türgriff herum. Sie wollte nichts wie raus, fort von Edric, egal wohin, Hauptsache weg hier.
Sie konnte nicht verstehen, woher ihre ganze Wut kam. Sie verspürte plötzlich große Lust, wild um sich zu schlagen oder sich zu einer Kugel zusammenzurollen und sich im Schmerz zu suhlen.
Wieso konnte Edric nicht verstehen, wie schwer das alles für sie wa r – hin- und hergerissen zu sein zwischen dieser Welt und der Bürde des Elfenerbes?
Keiner von beiden sprach ein Wort, während sie den Flur entlanggingen.
Wenn er doch bloß etwas sagen würde! Wenn er nur seine Worte zurücknähme und sich dafür entschuldigte, dass er an ihr gezweifelt hatte!
Sie ignorierte die kleine Stimme in ihrem Kopf: Du solltest den Anfang machen.
Nein! Niemals! Er hat mich tief verletz t – er muss den ersten Schritt tun.
Sie kam in den Eingangsbereich mit den bunten Wandgemälden und den Anschlagtafeln, die von Zetteln überquollen. Hinter den Glastüren konnte sie den zu dieser Zeit fast leeren Lehrerparkplatz sehen und dahinter das Haupttor. Der Wagen ihres Vaters stand an der Bordsteinkante. Sie wusste, dass Edric einen der Seitenausgänge nehmen würde. Aber noch war Zeit, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.
In der Mitte der Eingangshalle blieb sie stehen. Sie drehte sich nicht um, sondern wartete darauf, dass er aufholte. Das gab ihm Gelegenheit, etwas zu sagen.
Hinter ihr tat sich ein Abgrund des Schweigens auf. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fuhr auf dem Absatz herum.
Er war verschwunden.
Na bitte, soll er doch! Mir doch egal.
Sie schob sich durch die Tür und rannte über den Parkplatz, während unvergossene Tränen hinter ihren Augen brannten.
Mir doch egal!
Während der nächsten vierundzwanzig Stunden hatte Tania das Handy fast immer ausgeschaltet, damit Edric sie nicht kontaktieren konnte. Ab und zu war sie in versöhnlicherer Stimmung, und sie schaltete es an, in
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