Die Visionen von Tarot
anziehend und abstoßend gefunden. Die Hühnerzerlege-Rituale, das Essen von Schaben und die Mythologie des Inzestes ekelten seinen weißen Mittelklassegeschmack an, aber die Aufrichtigkeit dieser Religionsausübung und die offensichtliche Macht dieser Religion über die Massen befriedigten sein jugendliches Zugehörigkeitsbedürfnis. Später, als Bruder beim Heiligen Orden der Vision, hatte er sich auf beruflicher Ebene mit den Santeros befaßt, den Hexendoktoren, und hatte sie allgemein als ebenso bewußt und informiert über die Bedürfnisse ihrer Glaubensanhänger vorgefunden wie katholische Priester, Ärzte oder Psychologen. Im Voodoo gedieh die volkstümliche Medizin weiter. Der Heilige Orden der Vision zögerte nicht, eine Person auch zu einem bekannten Hexendoktor zu schicken, wenn die Situation dies erforderte. Das waren die wahren Glaubensheiler der modernen Zeit.
Aber dies war eine fremde Welt! Wie hatte die Animation dies anstelle des Voodoo-Tempels hervorgebracht, den er gesucht hatte? War es wieder Präzession? Er hatte im Sinn gehabt, die Religionen der Welt einzuordnen, die Extreme zu untersuchen, um sich dann zum Zentrum vorzuarbeiten und soviel wie möglich zu eliminieren. Auf faire Weise natürlich. Aber wenn die Prozession wieder zugeschlagen hatte, konnte man kaum sagen, in was er nun hineingeraten war.
„Oh.“ Es war eine junge Frau, die eine Art Uniform trug. Die eine Seite war von Kopf bis Fuß mit wattiertem Stoff bekleidet, die andere Seite – durch nichts bedeckt. Sie war also halbnackt.
„Ich scheine mich verirrt zu haben“, sagte Bruder Paul.
„Aber wo ist deine Subspaltung?“ fragte sie.
„Ich … fürchte, ich verstehe nicht“, sagte er und bewegte sich, um die Kühle zu seiner Linken zu mildern, wo er zu dicht am Schnee stand. Plötzlich begriff er den Grund für ihre Kleidung: Die rechte Seite war gegen die Kälte isoliert, während ihre linke sich bequem dem Sommer auf der anderen Seite angepaßt hatte. Vermutlich würde sie die Seiten auswechseln, wenn sie in die andere Richtung ging. Offensichtlich war auf dieser Welt die Luft gegen einen Austausch der radikal unterschiedlichen Temperaturen resistent, so daß extreme Klimate ohne Turbulenzen existieren konnten. Aber wenn sich hier Stürme auf taten, waren sie mit Sicherheit wild.
„Wo ist deine Schwester, deine Frau?“ fragte die Frau.
„Ich habe weder eine Schwester noch eine Frau“, gab Bruder Paul zurück.
„Ich meine, dein Geschwisterpaar in den Augen von Xe Ni Qolz“, erklärte sie. „Wie kommt es, daß nur deine eine Hälfte unterwegs ist?“
Das machte die Sache nicht deutlicher! „Ich komme gerade von … einem anderen Planeten. Ich bin ein Einzelkind, unverheiratet.“
Sie runzelte die hübsche Stirn. „Ich wußte nicht, daß noch ein Schiff angekommen war. Du versteckst dich aber besser, ehe du Ärger bekommst.“
„Ich weiß nicht einmal, wo ich bin und was hier vor sich geht.“
Sie blickte ihn forschend an. „Sieh mal, das ist alles ein bißchen plötzlich, aber vielleicht für uns beide eine hübsche Unterbrechung. Ich hatte gerade einen Kampf mit meinem Brudermann, daher bin ich allein fortgeschlichen, aber ich fürchte, Nath wird mich finden. Was hältst du davon, dich mit mir zusammenzutun?“
Bruder Paul verstand überhaupt nichts mehr. „Brudermann? Nath? Was bedeutet das?“
Sie trat auf ihn zu und ergriff seinen Arm. „Keine Zeit für Erklärungen“, sagte sie. „Guck, da ist schon einer!“
Er folgte ihrem Blick. Dort bewegte sich am Rand des Schneegrates etwas wie ein zottiger Teppich – aber es glitt bergauf. „Das war … war das lebendig?“ flüsterte er
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