Die Visionen von Tarot
Steine. In der Ferne konnte man die dazugehörige Stadt entdecken; von dem Loch, in dem sich der Brunnen befand, führten Stufen hinauf, und ein ausgetretener Pfad schlängelte sich auf die Stadt zu. Bruder Paul fragte sich, warum der Brunnen nicht in bequemerer Reichweite zur Stadt lag oder umgekehrt, doch er wußte um die vielen dazu notwendigen Faktoren, wie die Geländeschichten, die Fruchtbarkeit der Felder, Wegkreuzungen und schlichtweg Traditionen. Ohne Zweifel bedeutete dies viel Arbeit für die Frauen, wenn sie jeden Tag die schweren Wasserkrüge eine so weite Strecke schleppen mußten.
Jesus setzte sich mit offenkundiger Erleichterung neben dem Brunnen nieder. Die Zunge fuhr über seine ausgetrockneten Lippen. Er war durstig. Er stand auf und beugte sich über den Rand des Brunnens. Der Wasserspiegel lag zu tief, um ihn mit bloßer Hand erreichen zu können. Es gab zwar ein Seil, aber keinen Eimer. Es gab für ihn keine Möglichkeit, Wasser zu schöpfen, es sei denn, er spränge hinein – was aber dumm wäre, denn er würde nicht wieder hinausklettern können (Durst stillen oder überleben). Resigniert kehrte er an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.
Die Sonne brannte direkt über ihren Köpfen herab. Jesus saß allein mit gesenktem Blick da. Wieder fuhr seine Zunge über die ausgedörrten Lippen. „Seine Jünger sind in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen“, erklärte Therion.
Nun kam eine Frau zum Brunnen. Sie trug ihren Wasserkrug: ein großes irdenes Gefäß mit zwei gebogenen Henkeln und mit alten Mustern verziert. Sie war jung, und ihre Gestalt ähnelte dem Umriß des Kruges. Sie trug ein ausgeblichenes blaues Gewand und einen braunen Schal, der vor der Brust zusammengebunden war. Ein Kopftuch fiel über die Schulter bis hinab zur Taille. Die zierlichen Füße waren durch so etwas wie Sandalen geschützt, eigentlich bloße Lederbänder um Verse und Zehen. Vielleicht war sie eine Frau von schlechtem Ruf, aber sie wirkte schon sehr einnehmend. Natürlich war es für eine normale hausbackene Frau viel einfacher, einen guten Ruf zu haben. Bei ihr stand nicht ständig die Verführung auf der Schwelle.
„Amaranth“, murmelte Bruder Paul. Jede Animationsszene war anders, doch die Hauptcharaktere waren einander immer ähnlich. Aber man würde Amaranth nicht gestatten, ihre normale Sirenenrolle hier vorzuführen.
Fröhlich sprang die Frau die Stufen hinab, blickte Jesus flüchtig an und ignorierte ihn. Sie bückte sich über den Brunnen, nahm das lose Ende des Seils, band es durch ein Loch in ihrem Krug und ließ diesen vorsichtig hinab. Als die Luft heraussprudelte, hörte man es vernehmlich gurgeln.
Jesus wachte aus seiner Verträumtheit auf. „Bitte, gib mir einen Schluck Wasser“, sagte er.
Überrascht blickte die Frau ihn an. „Bist du nicht ein Jude? Aus Galiläa?“ Der Akzent und das Gewand machten sowohl seine Herkunft als auch seinen Stand leicht identifizierbar.
Jesus nickte. „Auch Juden haben Durst und auch die aus Galiläa.“
„Du, ein Jude, bittest eine Samariterfrau um einen Schluck Wasser? Dein und mein Volk haben nichts miteinander gemein.“ Doch irgendwie fühlte sie sich geschmeichelt, zog den vollen Krug hinauf und gab ihm einen Schluck. In dieser Trockenheit war die Geste des Wassergebens von grundsätzlicher Natur.
Jesus nahm einen tiefen Schluck. Schließlich gab er ihr den Krug zurück und wischte den Bart trocken. „Wenn du nur um das Gottesgeschenk Wasser wüßtest und auch über den, der es erbeten hat, dann hättest du ihn um lebendiges Wasser gebeten.“
„Was für ein Hochstapler“, bemerkte Therion lobend. „Da hat er sie aber bei ihrer Neugier gepackt. Er wäre ein guter
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