Die Wahrheit
Hatte er Schwierigkeiten mit der Polizei?«
»Wenn ich mich recht entsinne, war er kein guter Schüler. Er hat die High School nie abgeschlossen, konnte aber sehr gut mit den Händen umgehen. Als Junge hat er mit seinem Vater in einer kleinen Druckerei gearbeitet. Sein Bruder übrigens auch. Ich weiß noch, einmal hat die Druckerpresse meiner Zeitung ihren Geist aufgegeben. Da haben sie Rufus rübergeschickt, damit er sie repariert. Ich habe ihm die Reparaturanweisung für die Presse gegeben, aber er wollte keinen Blick reinwerfen. >Worte verwirren mich nur, Mr. Barkerc, hat er gesagt, oder so was in der Art. Er hat sich einfach an die Arbeit gemacht, und nach einer Stunde lief das verdammte Ding wieder und war so gut wie neu.«
»Das ist ziemlich beeindruckend.«
»Und mit der Polizei hat er nie Scherereien gehabt. Das hätte seine Momma ihm nie durchgehen lassen. Sie müssen wissen, das ist eine kleine Stadt, hier haben nie mehr als tausend Seelen gewohnt. Heute sind es noch weniger. Ich gehe auf die Achtzig zu und gebe die Zeitung noch immer heraus. Keiner lebt schon so lange hier wie ich. Die Harms’ haben natürlich in dem Teil der Stadt gewohnt, in dem die Schwarzen unter sich waren, aber wir kannten sie trotzdem. Na ja, mir kommen zwar keine Farbigen ins Haus, aber die Harms schienen ganz ordentliche Leute zu sein. Die Mutter hat im Schlachthof gearbeitet, wie fast alle hier. Als Putzfrau, ein mies bezahlter Job. Aber sie hat sich um ihre Jungs gekümmert.«
»Was ist aus dem Vater geworden?«
»Er war ein guter Mann. Hat nicht gesoffen oder ein ausschweifendes Leben geführt, wie viele von den Schwarzen. Er hat hart gearbeitet. Zu hart, denn eines Tages ist er nicht mehr aufgewacht. Herzanfall.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Ich habe seinen Nachruf geschrieben.«
»Was ist mit Rufus’ Bruder?«
»Oh, mit Josh ist es ganz was anderes. Hier in der Gegend nennen wir solche Burschen schwarze Schwarze. Hitzköpfig, arrogant, will was Besseres sein, als er ist. Ich hab’ keine Vorurteile oder so, und ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart das Wort Nigger in den Mund nimmt, aber genau damit würde ich Josh Harms beschreiben. Er hat ’ner Menge Leute auf die Füße getreten.«
»Ich habe gelesen, daß er in Vietnam gekämpft hat und ein Kriegsheld war.«
»Ja, das stimmt«, gestand Barker rasch ein. »Er war der bei weitem höchst dekorierte Kriegsheld, der je aus dieser Stadt gekommen ist. Das hat die Leute verdammt überrascht, das können Sie mir glauben. Josh konnte kämpfen, das gestehe ich dem Mann zu.«
»Was noch?«
»Na ja, er hat auch die High School abgeschlossen.« Barkers Tonfall veränderte sich. »Aber so richtig ausgestochen hat er alle anderen beim Sport. Ich bin hier ein Ein-Mann-Betrieb und schreibe alle Artikel selbst. Josh Harms war der größte Athlet, den ich jemals sehen durfte. Ob weiß, schwarz, grün oder blau, dieser Junge konnte schneller laufen, höher springen und weiter werfen als alle anderen. Ja, ich weiß, die Farbigen sind sowieso tolle Sportler, aber Josh war etwas ganz Besonderes. Er war so ziemlich in jeder Sportart Spitzenklasse. Wissen Sie, daß er noch etwa ein halbes Dutzend Leichtathletikrekorde dieses Staates hält? Und Alabama«, fügte er stolz hinzu, »hat sehr viele gute Athleten hervorgebracht.«
Sara seufzte. »Hat er auch auf dem College gespielt?«
»Sie meinen Football und so? Man hat ihm ein paar Stipendien für Football- und Basketball-Teams angeboten. Bear Bryant wollte ihn sogar an die University of Alabama holen, so ein As war er. Wäre in der NBA oder der NFL wahrscheinlich ein Star geworden. Aber er wurde auf ein Nebengleis geschoben.«
»Inwiefern?«
»Na ja, Sie wissen schon. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat ihn gebeten, sein Land im Krieg gegen den Kommunismus zu verteidigen.«
»Mit anderen Worten, man hat ihn eingezogen und nach Vietnam geschickt.«
»Genau.«
»Ist er danach wieder in seine Heimatstadt gekommen?«
»Ja, klar. Seine Momma hat damals noch gelebt, aber nicht mehr lange. Das war so um die Zeit, als Rufus sich den ganzen Ärger einbrockte. Wahrscheinlich hat Rufus sich wegen Josh freiwillig zur Army gemeldet. Vielleicht wollte er wie sein älterer Bruder sein, Sie wissen schon, ein Held. Ich glaube wirklich, damals wollte Rufus zur Abwechslung mal was Vernünftiges mit seinem Leben anfangen. Nachdem sein Daddy starb, hat ihn in dieser Stadt nichts mehr gehalten. Natürlich ging alles so
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