Die Wanderbibel
Rösti oder irgendetwas mit Käse spekuliert. Schließlich isst man ja in der Schweiz.
Anschließend führten wir dann die beim Bier üblichen Männergespräche: Politik, Fußball, Frauen. Autos spielten erfreulicherweise keine Rolle. Und ich lernte sogar etwas fürs Leben: Nämlich, dass ein Arschgeweih auf Schwyzerdütsch »Nuttenstempel« heißt. Mein Bergführer für den morgigen Tag, ein ziemlich cool aussehender, netter junger Mann namens Renato, schickte uns mit dem vielversprechenden Satz: »Morgen werdet ihr vom Gipfel aus die Dächer von Mailand sehen« in die Betten.
Am nächsten Morgen, nach einer doch recht kurzen Nacht, marschierten wir um 5.30 Uhr los. Es war schon hell genug, Stirnlampen brauchten wir keine.
Der Weg über die breite Rampe hinunter zum Gletscher war in wenigen Minuten zurückgelegt. Wir schnallten die Steigeisen an und bewegten uns durch ein beeindruckendes Labyrinth aus Eiswänden immer steiler nach oben.
Von Pausen hielt Renato wenig, dafür umso mehr von einem stets straff gespannten Seil zwischen den Mannen seiner Kundschaft. Das war wahrscheinlich auch gut so, ich vermute, dass wir nur einen Teil der Gletscherspalten, die wir überquerten, überhaupt registrierten, weil sie von wenig vertrauenswürdigen, aber trügerischen Schneebrücken verdeckt wurden.
Auf dem Rofenkarferner im Ötztal habe ich mich vor einigen Jahren mal »zum Spaß« in eine rund fünfzehn Meter tiefe Gletscherspalte abseilen lassen. Zum Erfahrungswert nur so viel: Gletscherspalten sind weder etwas für Menschen, die leicht frieren, noch etwas für Klaustrophobiker. Ich jedenfalls wollte ganz schnell wieder raus.
Die größte Gefahr beim Sturz in eine Gletscherspalte ist übrigens das Schmelzwasser, vor allem am Grund der Spalte. Das eiskalte Wasser kann den Körper des »Verunfallten« binnen weniger Minuten so schnell auskühlen, dass der Tod eintritt.
Nach insgesamt drei Stunden hatten wir es geschafft. Ziel erreicht: Ich stand auf dem Gipfel eines Viertausenders, eines waschechten Alpen-Viertausenders. Obwohl: ein richtiger steiler Gipfel mit Gipfelgrat war das nicht, eher eine sanfte Kuppe – mein Nordschwarzwald-Hausberg, die 1164 Meter hohe Hornisgrinde, hat steilere Passagen. Und mit der versprochenen grandiosen Aussicht war es auch nichts. Von wegen »man kann die Dächer von Mailand sehen«. Das Einzige, was ich im dichten Nebel tatsächlich sehen konnte, waren schemenhaft Renato und meine beiden Seilschaftskameraden.
Renato drängelte nach den obligatorischen Gipfelfotos zum Aufbruch. Er wollte nämlich dem durch die zunehmende Temperatur immer weicher werdenden Schnee – der Kenner spricht vom »faulen Firn« – zuvorkommen.
Beim Abstieg kam uns eine Karawane von Seilschaften entgegen. Einige der Gipfelaspiranten sahen etwas mitgenommen aus. Leichenblasse oder hochrote Gesichter waren nicht selten. Kein Wunder, die Schneeverhältnisse waren jetzt am späten Vormittag deutlich schlechter geworden. Wo man beim Aufstieg noch über brettharten Firn stapfte, sank man jetzt bis weit über die Knöchel ein, eine Belastungsprobe für die Oberschenkel.
Auf Hohsass, nach gut zwei Stunden Abstieg, diskutierten wir nachmittags bei einem schweizerischen Bier, das überraschenderweise schmeckte, darüber, ob sich das mit den Viertausendern nun erledigt hätte oder ob wir uns jetzt an schwierigeren Gipfeln versuchen würden, vielleicht irgendwann sogar am Matterhorn?
Übrigens: Die vermeintlich stolzen 4810 Meter, mit denen der Mont Blanc in Europa in Sachen Gipfelhöhe das Maß aller Dinge ist, sind, zieht man die »Rekordberge« anderer Kontinente zum Vergleich heran, eher bescheiden.
Nicht nur der Mount Everest, der als König des asiatischen Himalajagebirges mit 8848 Metern bekanntermaßen den Titel »Höchster Berg der Welt« für sich beanspruchen kann, sondern auch die Rekordhalter Süd- und Nordamerikas, der Aconcagua (6962 Meter) beziehungsweise der Mount McKinley (6195 Meter), spielen da in einer ganz anderen Liga. Und auch das »Dach Afrikas«, der sagenumwobene Kilimandscharo, ist mit 5895 Meter immerhin noch über tausend Meter höher als der höchste Alpengipfel. Ja, selbst der Mount Vinson (4892 Meter) – Rekordhalter eines Kontinents, bei dem man auf den ersten Blick zwar an Robben, Pinguine und Eisschollen denkt, aber keinesfalls an hohe Berge, nämlich der Antarktis – übertrifft, wenn auch nur geringfügig, den Mont Blanc in Sachen Gipfelhöhe.
Lediglich Australien, dessen
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