Die Zarin (German Edition)
einem Tag auf den anderen verstoßen werden und sich so im Elend der Straße wiederfinden.
Zu meiner Überraschung hatte Menschikow mir vor unserer Abreise einen Sack Gold gegeben: Davon sollte ich mir unter Darjas Aufsicht eine kleine Ausstattung zusammenstellen. Als ich ihm danken wollte, musterte Alexander Danilowitsch mich aufmerksam: »Mädchen Martha, es gibt etwas, was du weißt und ich nicht. Wir werden sehen …, verwende das Gold weise!«
Er legte den Beutel in meine hohle Hand und schloß meine Finger darum. Ich starrte darauf und vergaß vor Staunen, meine Hand in den Muff zurückzustecken. Ehe ich mir den Sinn seiner Worte erklären konnte und ihm für seine Großzügigkeit die Hand küssen konnte, raffte er schon seinen Mantel um sich, drückte den Pelzhut tiefer in die Stirn und stapfte durch den hohen Schnee zum Tor der Schlüsselburg zurück. Seine Füße in den schweren Stiefeln rissen Löcher in die unberührte Schneedecke.
Wir sollten ihn erst in einigen Wochen in Moskau wiedersehen.
Wir waren wohl schon drei Wochen lang mit den Schlitten unterwegs, als Darja begann, unruhig zu werden und aufmerksamer aus dem Fenster zu sehen. Sie stieß ihre Schwester Warwara an und zeigte aus dem Fenster, hin zu den Wäldern, die wie ein dunkler, unendlicher Strich vor dem silbernen Land lagen. Ich konnte dort nichts Besonderes entdecken. Darja aber erkannte die Landschaft um Moskau in dem blassen Licht und dem eintönigen Schnee, so wie ich jedes Feld um mein Heim wiedererkennen würde.
Zwei Tage später, noch ehe wir die Poststation für unser Nachtlager erreichten, ließ Darja den Schlitten halten. Sie hatte vor Aufregung rote Wangen und zog meinen widerstrebenden Arm unter dem warmen Fell hervor.
»Komm, Martha, ich zeige dir etwas, was deine armen Augen noch nie gesehen haben! Los, zieh deine Stiefel an und komm!«
Sie war schneller als ich: Darja verwandelte ihre Nerzdecke in einen Umhang und sprang aus dem Schlitten in den hohen Schnee neben den Kufen. Dort versank sie bis zu den Knien in einer Wehe: Sie lachte jedoch nur und stapfte bereits weiter. Ich folgte ihr und sank ebenfalls neben dem Weg bis über beide Knie in den Schnee ein. Darja pfiff wie ein Junge nach einem Knecht und ließ ihn uns einen Pfad bis auf eine kleine Anhöhe neben dem Weg bahnen.
»Komm, nun komm doch!« rief sie mir einige Male ungeduldig über die Schulter zu, während sie dem Mann folgte. Sie eilte mir voran und stolperte dabei vor Ungeduld mehrere Male über den Saum ihres Umhangs. Sie richtete sich lachend wieder auf, den Schnee an den nackten Händen und im glühenden Gesicht. Als sie auf der Höhe des kleinen Berges angekommen war, blieb sie stehen und wartete, bis ich bei ihr angelangt war. Sie legte ihren schlanken Arm um meine Schultern und ließ den anderen über die Ebene schweifen, die zu unseren Füßen lag.
»Wir sind auf den Sperlingsbergen! Und sieh, Martha, was hier vor uns liegt! Die schönste Stadt der Welt: Schau doch! Moskau! Moskau!« rief sie noch einmal.
Moskau, die Stadt der zweitausend Kirchen, streckte sich uns zu Füßen über die gesamte Weite hin: Noch nie hatte ich eine so große Stadt gesehen. Wo begann sie, wo war ihr Ende? In seinem Wunder und seinem unglaublichen Ausmaß bot sich das Herz des Russischen Reiches schamlos und stolz meinen staunenden Augen dar. Die Sonne versank bereits fahl am weißen Himmel: Aber die Tausende von Kuppeln und Türmen der Stadt schienen doch golden zu leuchten. Sie sandten ihr ganz eigenes Licht und Leben in den Abend. Der kalte Nachtwind der Taiga hob sich bereits, und er schien die Geräusche aus den Straßen, den Gassen und den Häusern nach oben zu uns auf die Anhöhe zu tragen. Der Anblick der Stadt verriet mir ihren Pulsschlag, und ich spürte das Blut, das durch ihre Adern rann: Peitschen knallten, Frauen lachten, Kinder schrien, und Männer in den kabaki fluchten. Ich hörte das Vieh in den Ställen brüllen, das Rauschen des Flusses auf den Mühlrädern und das Klappern der Pferdehufe auf den grob gepflasterten Hauptstraßen der Stadt. Zudem bekamen unsere Nasen auch den ersten Gestank der Stadt zu fassen! Der Gestank nach dem Essen der kabaki , den Abwässern in den Gassen, nach den Märkten und ihren Resten in den Straßen, nach den schweren Ölen und den Parfums der Händler, nach den Tausenden von Menschen und ihren Ausscheidungen: den Tausenden von Leben mit all ihrem Glück und Leid.
Moskau aber war nicht so gebaut, wie ich es von
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