Die Zeit: auf Gegenkurs
sich dort, ähem, zu übergeben.
Schließlich kam sie zurück und strahlte ihn mit einem warmen, fröhlichen Lächeln an. »Ich habe einen sehr guten alten importierten Siddon’s Einlauf da«, sagte sie und hielt die Flasche hoch. »Möchten Sie etwas davon?«
»Nein, danke.« Er griff nach einer Langspielplatte mit Beethoven-Sonaten für Cello und Klavier. Man stelle sie vor, dachte er. Eines Tages, in ein paar Jahrhunderten, wird man sie löschen; die Bibliothek in Wien wird die vollgekritzelten, zerknitterter Blätter mit den Originalnoten erhalten, die Beethoven unter mörderischen Mühen und Qualen von der letzten gedruckten Ausgabe der Partitur übertragen hat. Aber, durchfuhr es ihn, Beethoven wird ebenfalls wiederkehren; eines Tages wird er furchtsam aus seinem Sarg um Hilfe rufen. Aber wozu? Um einige der schönsten Kompositionen zu löschen. Was für ein grausiges Schicksal.
»Soll ich sie auflegen?« fragte Ann Fisher.
»Wunderbar«, nickte er.
»Sie ist so schön.« Sie legte das Opus Fünf Nummer Eins auf den Plattenteller; beide hörten zu, aber nach wenigen Augenblicken wurde sie unruhig; offensichtlich war konzentriertes Zuhören nicht nach ihrem Geschmack. »Glauben Sie, daß die Hobart-Phase irgendwann enden wird?« fragte sie, während sie im Wohnzimmer umherging. »Und daß sich die normale Zeit wieder durchsetzt?«
»Ich hoffe es«, sagte er.
»Aber für Sie ist es von Vorteil. Sie waren schon tot, nicht wahr?«
»Sieht man mir das an?« fragte er verärgert.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber Sie sind um die Fünfzig, nicht wahr? Auf diese Weise hat sich Ihr Leben verlängert; genauer gesagt, Sie haben zwei ganze Leben. Gefällt Ihnen dieses mehr als das erste?«
»Mein Problem«, sagte er freimütig, »ist meine Frau.«
»Ist sie viel Jünger als Sie?«
Er schwieg und betrachtete eine in venusisches Schnoffelfell gebundene Ausgabe englischer Gedichte aus dem siebzehnten Jahrhundert. »Mögen Sie Henry Vaughn?« fragte er sie.
»Hat er nicht das Gedicht über die Ewigkeit geschrieben? ›Ich sah die Ewigkeit vergang’ne Nacht‹?«
Sebastian schlug das Buch auf. »Andrew Marvell. An sein scheues Weib. ›Doch hinter mir hör ich den Wagen / der eilig’ Zeit auf Schwingen nahen / und vor uns allen ausgebreit’ / Wüsten unermeßlicher Ewigkeit.‹« Abrupt schloß er das Buch. »Ich sah sie, diese Ewigkeit / jenseits von Raum, jenseits der Zeit / wandelnd zwischen Dingen so groß …« Er verstummte; es kam ihm noch immer sinnlos vor, seine Erfahrungen im Jenseits beschreiben zu wollen.
»Ich glaube, Sie versuchen nur, mich so schnell wie möglich ins Bett zu bekommen«, bemerkte Ann Fisher. »Der Titel des Gedichts – ich habe ihn schon richtig verstanden.«
Er zitierte: »Sollen sich die Würmer laben an dieser langbewahrten Jungfräulichkeit.« Lächelnd drehte er sich zu ihr um; vielleicht hatte sie recht. Aber das Gedicht dämpfte seine Erregung; er kannte es zu gut – das Gedicht und die Erfahrung, die dahinterstand. »Das Grab ist ein schöner und trauter Ort«, knurrte er halb, und er spürte, wie alles zurückkehrte, der Geruch des Grabes, die Kälte, die erdrückende, böse Finsternis. »Aber niemand, denk ich, umarmt sich dort.«
»Dann laß uns ins Bett gehen«, sagte Miss Fisher praktisch. Und sie führte ihn in ihr Schlafzimmer.
Nachher lagen sie nackt da, nur mit dem Bettuch zugedeckt; Ann Fisher rauchte schweigend, nur die rote Glut verriet ihre Gegenwart. In ihn war Frieden eingekehrt; seine grimmige Anspannung war verschwunden.
»Aber für dich war es nicht die Ewigkeit«, sagte Ann Fisher abwesend, als wäre sie tief in Gedanken versunken. »Du bist nur eine begrenzte Zeit tot gewesen. Wie lange, fünfzehn Jahre?«
»Man empfindet es aber so«, erwiderte er brüsk. »Ich versuche es allen begreiflich zu machen, aber niemand, der es nicht selbst erfahren hat, versteht es. Wenn man sich außerhalb der Kategorien von Wahrnehmung, Zeit und Raum befindet, dann währt es endlos; es vergeht keine Zeit, ganz gleich, wie lange man wartet. Und es kann unendliches Glück oder unendliche Qual bedeuten, je nachdem, welche Beziehung man zu ihm hat.«
»Zu wem? Gott?«
»Der Anarch Peak nannte es Gott?«, sagte er nachdenklich, »als er zurückkam.« Und dann, wie betäubt, begriff er – vollständig und unwiderruflich – was er gesagt hatte.
Nach einer Weile sagte Ann Fisher: »Ich erinnere mich an ihn. Es ist Jahre her. Er hat Udi gegründet, diesen
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