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Die Zeitreisenden in Callahans Saloon

Titel: Die Zeitreisenden in Callahans Saloon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spider Robinson
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Mensch, der nicht so altert, wie Gott es vorgesehen hat, vom Teufel gesandt sein muß. Tom war vor allem aufgefallen, daß die Kirche in den letzten zweihundert Jahren keinen Schritt bei dem Versuch weitergekommen ist, die Menschen davon zu überzeugen, daß das Unbekannte nicht automatisch mit dem Bösen gleichzusetzen ist. Longdrink ist verrückt auf Kriegsspiele; er hat sich den Abschnitt über die Schlacht am Lake Champlain 1814 gemerkt, bei der ihr dritter Mann und zwei weitere Kinder umkamen. Der Schnelle Eddie erinnert sich an die Geschichte von ihren ersten Tagen als Walfänger-Hure in Nantucket, denn sie hat sich mitten im Satz unterbrochen und ihn besorgt gefragt, ob es vielleicht ein Schock für ihn wäre. (»Doch nicht für mich«, widersprach er, »ich könnte wetten, daß Sie eine ganz wunderbare Hure waren«, worauf sie ihm lächelnd dankte und sachlich und leidenschaftslos fortfuhr.) Spud Montgomery hat sich die drei Kinder aus Rachels Hurenjahren gemerkt, weil Spud aus Alabama stammt und heute noch den Bürgerkrieg weiterführt – und in dem sind die drei Kinder ums Leben gekommen. Tommy Janssen hat sich ihr letztes Kind, den Schwachsinnigen, eingeprägt, der nie lernte, selbständig zu essen und der lange fünfunddreißig Jahre brauchte, bis er starb; Tommy ist nämlich zusammen mit einer geistig zurückgebliebenen Schwester aufgewachsen. Doc Webster weiß noch alle Einzelheiten von Rachels letzter Entbindung, der ersten in einem Krankenhaus, einer Totgeburt – und nachher entfernte der Arzt ihr die Gebärmutter. Doc kann sehr gut die Überraschung eines Arztes nachempfinden, der eine Patientin Ende zwanzig vor sich hat, deren Gebärmutter achtzehn Kinder hervorgebracht hat. Callahan erinnert sich bezeichnenderweise an den Mann, mit dem sie zuletzt verheiratet war, den ersten Mann seit ihrem geisteskranken Pfarrer, dem sie die Wahrheit gestehen konnte, bei dem sie nicht kosmetisch »altern« mußte, dem sie ihr sonst streng gehütetes Geheimnis anvertrauen konnte; der sanfte, ungewöhnlich verständnisvolle Mann, der sie von ihrem Selbsthaß und ihrer Angst vor der eigenen Natur heilte und sie so akzeptierte, wie sie unerklärlicherweise war; der gute, liebevolle Mann, der wegen der anderthalb Dollar in seiner Tasche überfallen und umgebracht worden war – etwa zwei Monate, bevor Rachel den Weg in Callahans Saloon fand.
    Aber keiner von uns hat sich die komplette Geschichte gemerkt. Wir wollen es gar nicht, denn wenn wir es tun, wird ein Rührstück daraus. Außerdem könnten wir es vermutlich nicht, selbst wenn wir es wollten. Wenn mir jemand genauso ausführlich meine Zukunft schildern würde, könnte ich sie mir auch nicht in allen Einzelheiten merken. Es war eine gewaltige Geschichte, und wir nahmen sie im Lauf der Stunden, in denen wir sie uns anhörten, zugleich mit einer Menge Alkohol in uns auf.
    Ich bin fünfunddreißig und habe viel erlebt, aber als Rachel mit ihrem Bericht fertig war, kam ich mir wie ein Fünfjähriger vor, dessen Urgroßmutter soeben die Geschichte ihres Lebens mit allen entsetzlichen Details zum Besten gegeben hat.
    In der Todesstille nach Rachels letzten Worten fiel keinem von uns etwas Vernünftiges ein, das er ihr sagen konnte, denn alles mußte zwangsweise abgeschmackt klingen – als würde man einem Aussätzigen zu bedenken geben, daß es vor dem Morgengrauen immer am dunkelsten ist. Dabei hatte in ihrer Stimme oder ihrem Gesicht keine Qual gelegen. Das war das Erschreckende daran; sie hatte vollkommen unpersönlich und sachlich wie ein Historiker gesprochen, als berichte sie über jemanden, der schon lange tot ist. »Sie Erleben Jetzt Die Schlacht Am Lake Champlain Mit.«
    Natürlich kam in ihrer Geschichte viel Schmerz vor – aber er lag unter dem Schutt von zwei Jahrhunderten so vergraben, daß man ihn nur ahnen konnte. Dennoch – der Schmerz war vorher dagewesen, war wenigstens einen Augenblick lang an die Oberfläche gedrungen, als sie geweint hatte. Wieso? Warum?
    Allmählich fiel mir auf, daß die Männer mit offenem Mund herumsaßen. Selbst Callahan sah aus, als hätte man ihm einen Schlag auf die Rübe versetzt, und das erschreckte mich. Ich musterte die Gesichter, um wenigstens eines zu finden, das eine Antwort, einen Trost, ein Wort für Rachel übrig hatte.
    Und ich fand eines. Der Mund des Schnellen Eddies zitterte, weil Worte darum kämpften, über die Lippen zu kommen. Er konnte sich nicht entschließen zu sprechen, aber er hätte es gern

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