Die Zeugin: Thriller (German Edition)
fallen neue Scheine auf. Alte Banknoten viel besser.«
Außerdem überwachte hinter der Grenze niemand die Seriennummern der gestohlenen Millionen.
»Verstehst du, ist es brillante Lösung für viele Probleme. Egal, auch wenn du nicht weißt, wo ist Geld, bist du nützlich. Bin ich kein Verschwender. Bekommst du zweite Erfahrung.«
Zweite Erfahrung. Ihr wurde ganz kalt.
»Aber um Zeit zu sparen, frage ich noch mal: Wo ist dein Onkel?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Ich glaube …« Sie ließ die Schultern hängen. »Vielleicht ist er tot.«
»Wäre wirklich schade.«
»Seit Jahren hat niemand mehr von ihm gehört.«
»Kann er wieder auftauchen, wenn Anreiz stimmt.« Er schnippte mit den Fingern. »Bringt Kamera und Ausrüstung.«
Ausrüstung. Der Adrenalinstoß verdrängte kurz den Schmerz in ihrem Arm. Was für eine Ausrüstung?
»Ich sage Ihnen doch, Lee ist verschwunden.«
Mirkovic nahm das Bein vom Knie und lehnte sich vor. »Das Geld, glaubst du, es gehört dir.«
»O Gott, nein.«
Mit ausgestrecktem Finger sprang Boone auf sie zu und bellte: »Natürlich glaubt sie das, verdammte Scheiße.«
Boone war high. Seine Pupillen waren klein wie Flöhe, und Hitze strahlte in Wellen von ihm aus.
Anscheinend war der Regenwurm überrascht von Boones Ausbruch, denn er lockerte den Griff um Rorys Arm und wandte sich halb zu ihrem Cousin. Eine unwillkürliche Schutzbewegung, aus der Rory schloss, dass ihm niemand traute. Was Boone auch antrieb – Crystal Meth, Gin, lebenslanger Zorn –, es erhöhte den Druck wie eine Flasche Butangas, die in ein offenes Feuer zu stürzen drohte.
Schon nach Boones zweitem Schritt in Mirkovics Richtung gingen die Anzugträger geschmeidig dazwischen, um ihn abzudrängen.
Mit erhobenen Händen trat Boone zurück. Wischte sich über die Nase. Dann zeigte er auf Rory. »Sie will das Geld für sich. Wenn sie sich nicht sowieso schon die Hälfte gekrallt und es zum Fenster rausgeschmissen hat.«
Sie lächelte grimmig. »Wie schön, Boone Mackenzie. Danke, dass du es mir so leicht machst.«
In Mirkovics Augen erwachte ein Funken von Interesse. Als würde er ein Insekt katalogisieren, das das unvermutete Potenzial verriet, ihn in Erstaunen zu versetzen oder einem anderen Schaden zuzufügen.
»Freut mich, dass du dich nicht mehr hinter deiner Mom und deinem Hass auf meine Familie verkriechst und heimlich versuchst, meinen Hund umzubringen. Danke, dass du mir endlich dein wahres Gesicht zeigst.«
»Ich heiße nicht mehr Mackenzie, sondern Renfro.«
Renfro war der Name seines leiblichen Vaters.
Er wandte sich ab und warf Rory seinen typischen halb seidenen Blick zu. »Besser, sie spuckt es aus. Holt die Kamera, damit wir anfangen können.«
»Immer langsam«, mahnte Mirkovic.
Boones Mundwinkel wanderten nach unten, als hätte sich ein Dorn in seine Lippen gebohrt. »Ständig hat sie Postkarten von meinem Dad gekriegt.«
»Glaubst du vielleicht, er hat mir verschlüsselte Botschaften geschickt, als ich klein war? Mit einem kleinen Kreuz für das Versteck?« Plötzlich wurde sie merkwürdig ruhig. »Hättest sie eben nicht zerreißen sollen, Boone. Vielleicht hast du damit deine einzige Chance zerstört, an die Kohle ranzukommen.«
Die Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopf. Die blaue Butanflamme loderte hell auf, und er schaute sie voll an. Scheiße stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Mirkovic blieb unbeeindruckt. »Wo ist das Geld?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Bis vorgestern wusste ich noch nicht mal, dass es existiert. Meinen Sie nicht, dass ich schon längst mit einem Erste-Klasse-Ticket auf die andere Seite der Erde verschwunden wäre, wenn ich das Versteck gekannt hätte? Wieso bin ich noch in Ransom River und muss die letzten Pennys zusammenkratzen und auf einen Job im Dairy Queen hoffen? Niemand von meiner Familie wäre mehr hier. Wir hätten uns eine Insel in Polynesien gekauft und uns dort als Herrscherdynastie niedergelassen. Ich wäre die Prinzessin, für die mich Boone immer gehalten hat, und würde jeden Morgen nach dem Kaffee auf Fotos von ihm herumtrampeln.«
Boone fixierte sie wie eine Fremde. »Die spinnt doch.«
Ja, vielleicht. Vielleicht machte sie gerade eine außerkörperliche Erfahrung. Vielleicht wurde sie soeben als eine Frau wiedergeboren, die sich nicht mehr um ihr Leben scherte und bereit war, alles zu riskieren, um diese Arschlöcher hinter Gitter oder unter die Erde zu bringen. Auf jeden Fall musste sie verhindern, dass
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