Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Anwältin.«
»Genau deswegen. Ich brauche einen Experten für Strafrecht.« Wie ein bleiernes Gewicht lasteten die Worte auf ihr. Wie sollte sie einen kompetenten Juristen bezahlen, der viel leicht mehrere Tausend Dollar Vorschuss verlangte? Sollte sie ihr Auto verkaufen? Wie viel würde sie für ihren ramponierten Subaru überhaupt noch bekommen? Siebenmal hinfallen, achtmal wieder aufstehen. Sie wollte nicht zugeben, dass sie erneut zu Boden gegangen war. Oder besser gegen eine Wand geknallt.
Petra trat auf sie zu. »Das wird schon alles.« Sie legte ihr die Hand auf den Rücken. »Komm, jetzt trink erst mal Kaffee. Die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter warten. Auch eine von deiner Tante.«
»Was?«
»Deine Tante Amber hat sich gemeldet. Macht sich Sorgen, will alles erfahren.«
Langsam sackte Rory der Kiefer nach unten. »Immer wenn ich glaube, auf den schlimmsten Fall gefasst zu sein, serviert mir die Welt etwas, das meine Vorstellungskraft übersteigt.«
U nten in der Küche hörte Rory die Maschine ab. Bekannte hatten angerufen, sogar alte Rivalinnen vom Crosslauf an der Highschool. Ehemalige Kollegen vom Friedenskorps. Eine Kommilitonin.
»Muss ja wirklich eine große Sache sein«, meinte sie.
»Ich dachte, das ist dir klar.«
Die Belagerung des Gerichtssaals war das Schrillste, was sich in Ransom River seit Jahrzehnten ereignet hatte. Und die Stadt hasste alles Schrille. Nach Rorys Erinnerung hatte es hier nur wenige vergleichbare Ausbrüche krimineller Gewalt gegeben: die Entführung eines Benzin-Lastzugs, eine Brandstiftung, die einen ganzen Autoschrottplatz vernichtete, und der Überfall auf einen Geldtransporter, der die Stadt in die Schlagzeilen gebracht hatte, als sie noch ein Kind war.
»Muss ich den Fernseher einschalten?«
Petra sammelte ihr Unterrichtsmaterial vom Küchentisch zusammen. »Ob es dir passt oder nicht, du bist der Star des Tages. Also, willst du hören, was sie erzählen?«
Die Aufmerksamkeit der Medien war unvermeidlich. Sie lebte hier in Südkalifornien, wo man mit Live-Berichten über reale Verbrechen höhere Einschaltquoten erzielte als mit Hockey. Und warum auch nicht? Es war billiger, Schießereien zu filmen, als Spieleshows zu drehen. Keine Kulissen, keine Löhne, keine Verzichtserklärungen.
Rory spülte den Kaffee hinunter und zielte mit der Fernbedienung auf das TV -Gerät. Dann ließ sie widerstrebend die letzte Nachricht auf dem Anrufbeantworter laufen.
Aurora, hier ist deine Tante Amber. Du warst im Fernsehen, und ich habe mit Nerissa geredet. Nicht zu fassen, dass du in diesem Gerichtssaal warst.
Ambers kratzige Stimme klang nach Virginia Slims.
Jedenfalls musst du mir alles haarklein erzählen. Pass auf dich auf, Schätzchen.
Rory drückte auf Löschen.
»Wie gesagt«, merkte Petra an. »Du bist berühmt.«
»Und sie hofft, dass was davon auf sie und ihre Kinder abfärbt.«
Petra warf ihr einen scharfen Blick zu.
»Du hast es ja gehört – sie hat mit Riss geredet. Und die hat gestern Abend eine oscarverdächtige Vorstellung hingelegt.«
»Stimmt, das war wirklich bizarr.« Petra schüttelte den Kopf.
»Alles Berechnung. Riss führt was im Schilde. Garantiert. Und dabei geht es nur um sie.« Ich bin höchstens ihre Zielscheibe. »Bei Riss gibt’s nur gewinnen oder verlieren. Deswegen behandle ich sie grundsätzlich wie eine Handgranate mit gezogenem Stift.«
Das war praktisch schon so, seit sich Rory erinnern konnte. Zumindest seit Onkel Lee verschwunden war.
Aus dem Fernseher plärrte Katastrophenmusik. Orchestrale Melodramatik. Fanfaren des Unheils. Über den Bildschirm lief ein roter Schriftzug: Belagerungszustand im Gericht – Albtraum in Ransom River.
Eine Sondersendung, die die Geschehnisse zusammenfasste. Rory schaltete ab. »Ich brauche Abstand von diesem Müll.«
»Wo willst du hin?«, fragte Petra.
»Ich geh laufen.«
15
Damals
»Gib mir den Schraubenschlüssel.«
Rory kramte im Werkzeugkasten. Onkel Lee wartete mit ausgestreckter Hand. Sie zog den Schlüssel heraus und reichte ihn ihm.
Er grinste. »Danke, Prinzessin.«
Sie strahlte bis zu den Schuhsohlen. Normalerweise kamen Sechsjährige nicht dazu, ein Auto zu reparieren. Aber sie durfte Onkel Lee mit dem El Camino helfen. Sie glaubte zu schweben.
Das Auto stand im Schuppen. Er sah aus wie eine kleine Scheune und stand an der Schotterstraße auf dem Ackergrundstück ihrer Eltern am Stadtrand. Der El Camino gehörte ihrem Dad und stammte noch aus seiner
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