Diebin der Nacht
haben. Ich bin jedoch froh, dass Sie die Sache so sehen.«
»Ich glaube ihr den größten Teil ihrer Geschichte, und wie bescheiden auch immer ihre Anfänge in Dublin gewesen sein mögen, heute stellt sie etwas Besonderes dar. Diese Frau kann innerhalb einer Sekunde vom Plaudern über das Thema französische Spitzen zum Kampfgeist eines Julius Cäsar übergehen. Außerdem ist sie eine begnadete Tänzerin.«
Nimm das Ganze nicht so wichtig, ermahnte er sich verzweifelt selbst. Du machst törichterweise Platz für sie in deinem Herzen, woran zum Teil dieser Junge, Hush, schuld ist. Falls der Junge nicht ebenfalls ein erstklassiger Schauspieler ist, so ist dieser Besuch am Samstag aufrichtig gewesen. Und die Meinung des Jungen Mystere betreffend, stimmte zudem noch mit seiner eigenen Meinung von ihr überein. Auch wenn ihm das widerstrebte. Trotzdem musste er diese ungewollte Anziehungskraft besiegen.
Die kalte, harte Wahrheit war nämlich die, dass sie zu seinem besten Racheinstrument geworden war. Krankheit, unbegründeter Hass - das mochte ja alles zutreffen. Aber war nicht Carolines erbärmliche, in den letzten Zügen hegende Aristokratie auf ihre Art genauso krank? Wie Pasteur ja bewiesen hatte, bekämpfte man eine Krankheit am besten durch Krankheit selbst.
Plötzlich schaute er zu Sam hinüber, der geduldig auf die Anweisungen seines Arbeitgebers wartete.
»In einem Moment glaube ich, alles begriffen zu haben. Im nächsten Moment haben sich meine Erkenntnisse schon wieder verflüchtigt, ganz so, wie es mit einer Faust geschieht, nachdem man seine Hand wieder geöffnet hat. Die Wahrheit über die Frauen, befürchte ich, weilt an irgendeinem Ort, wo die Sprache sie nicht recht erreichen kann.«
»Ein Mysterium«, resümierte Sam und lächelte entschuldigend wegen des offensichtlichen Wortspiels.
Rafe nickte. In seinen Augen spiegelten sich widersprüchliche Gedanken wider. Er sah sie im Geiste im glänzenden Kerzenschein seines Salons, sah, wie die Linien ihres nackten Körpers sich deutlich durch ihr dünnes Hemd abzeichneten, sah die dunklen Brustwarzen durch den Stoff schimmern, sah den dunklen, geheimnisvollen Schatten zwischen ihren Beinen ... Plötzlich pulsierte sein Blut in Wogen des Verlangens, und nur widerwillig nahm er seinen eigenen Aktenkoffer auf.
»Ja. Mystere«, antwortete er schließlich. »Und nun lassen Sie uns Wilson suchen und zurückfahren. Sie hat uns schon genug Zeit gekostet.«
In dem Moment, als Paul am Mittwoch nach dem Mittagessen einen Familienrat einberief, wusste Mystere schon, dass sie in Schwierigkeiten steckte und warum.
Die vierteljährliche Zahlung seiner Geldanlagen war vor kurzem fällig gewesen, und sie wusste, ohne dass irgendjemand es ihr zu sagen brauchte, dass er an seinen Tresor gegangen war und das Fehlen des Diadems entdeckt hatte. Als Mystere, Rose, Evan, Baylis und Hush im unteren Salon versammelt waren, richtete er sich mit einem beängstigend wichtigtuerischen Schnaufen auf und verkündete: »Es hat ein unglaublicher Eingriff in meine Privatsphäre stattgefunden.«
Noch bevor er überhaupt verbal in Fahrt kommen konnte, äußerte Mystere sich kühn: »Ich bin es gewesen, die das Diadem genommen hat. Die anderen haben nichts damit zu tun.«
Das Ganze war ziemlich gefährlich und riskant. Es stimmte zwar, dass sie für ihn inzwischen unersetzbar geworden war, und Pauls Habgier machte ihn zu einem kalkulierbaren Mann - aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Er war unerträglich eingebildet geworden, seit er zu Caroline Astors engerem Kreis gehörte. Den Einbruch in seinen Tresor sah er als einen absoluten Affront an.
Sie wusste, er war cholerisch veranlagt, und Furcht erregend. Er erhob sich schwankend von seinem Stuhl und baute sich vor ihr auf, schwang seinen Stock, als wollte er sie schlagen.
»Paul!«, rief Rose aus. »Nein!«
Evan bewegte sich ziemlich schnell für einen so großen Mann. Mit einer Hand packte er Hush beim Kragen, der gerade den alten Rillieux angreifen wollte; mit der anderen Hand hielt er behutsam und respektvoll Rillieux zurück.
»Sei vorsichtig damit, Boss«, erinnerte Baylis ihn. »Du weißt, die Hand, die uns ernährt...«
Der Wink war vielleicht unbeholfen, aber Rillieux war clever genug, ihn ernst zu nehmen. Diese aufsässige junge Frau war seine größte Hoffnung auf finanzielle Rettung, und das wusste er.
Aber selbst, als er sich wieder beruhigte, ließ seine engstirnige Tyrannei Mystere um so aufsässiger
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