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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Duschhandtuch wickeln musste, damit es niemand sah. Jackson sorgte sich nicht mehr wegen der Kreditkartenrechnungen; er fühlte sich nicht mehr verfolgt. Er war in der Lage, die gestrige Begegnung mit »Caprice« in komischem Licht zu betrachten, und bedauerte es ein wenig, dass er diese verdammt gute Story nicht beim Bier würde zum Besten geben können. Es betrübte ihn ein wenig, dass Shep arbeitslos und pleite war, doch es war eine sanfte, tröstende Traurigkeit wie der bedeckte Himmel. Sheps Misere zeigte deutlich, dass alles sinnlos war, dass zwischen Tugendhaftigkeit und Belohnung keinerlei Zusammenhang bestand und auch nie bestanden hatte. Doch diese Wahrnehmung war ruhig und direkt und faktisch, und er war in der Lage, gleichmäßig und gelassen darüber nachzudenken, ähnlich wie er vielleicht daran gedacht hätte, Papierservietten einzukaufen.
    Das Gefühl der absoluten Unbekümmertheit machte ihm bewusst, wie sehr er sich etwa das ganze letzte Jahr, wenn nicht fast sein ganzes Leben lang gequält hatte. Im Nachhinein hätte er sich diesen Inselrückzug längst gönnen sollen. Im Grunde war Shep ein psychologisches Genie. Alle Menschen sollten ein Pemba haben.
    Die milde, laue Sorglosigkeit spendete ihm auf dem größten Teil des Heimwegs noch Trost. Er war natürlich müde, aber es war eine angenehme Erschöpfung, wie nach dem Gerätetraining. Versuchsweise rief er die verschiedensten Themen auf, über die er sich früher echauffiert hatte: Die Alternativsteuer, das niedrige Bildungsniveau und das abgekartete Spiel mit den Beamtenparkplätzen in Lower Manhattan regten in ihm jedoch nur freundliche Gleichgültigkeit. Übertriebene Bauvorschriften kümmerten ihn nicht, der Irak kümmerte ihn nicht. Es kümmerte ihn nicht, ob einer seiner Trupps aus Versehen nassen Zement in den Terrassenabfluss eines Kunden hatte laufen lassen, und es kümmerte ihn nicht, ob sie mit dem Druckluftnagler Mulden in einer Trockenbauwand hinterlassen hatten. Wenn er ganz ehrlich war, in diesem Moment kümmerte es ihn nicht mal, wenn Flicka eines Tages einfach für immer einschlief; das war ein guter Weg, und sie würde ohnehin sterben. Es kümmerte ihn nicht, dass er Carol mit einem Schuldenberg zurückließ, denn sie war eine attraktive, patente Frau, die im Nu einen neuen Ehemann gefunden hätte.
    Und den Staat um zwanzig Jahre Steuereinnahmen zu bringen, war die gerissene kleine Aussteigeroption, die ihm vorschwebte, genial gehässig, der ultimative Steuertrick. Er würde sich selbst von der Steuer abziehen. Überhaupt würde es diesen Arschlöchern recht geschehen, wenn die gesamte arbeitende Bevölkerung seines Landes in einem Akt spontanen Widerstands gegen die Staatsgewalt über Nacht seinem Beispiel folgen würde. Wo blieben dann die Absahner? Sie säßen allesamt auf dem Trockenen, diese Wichser. Verdammt, wo sind meine Sklaven, wo bleibt mein Frühstück?
    Doch dieses kurzzeitige Gefühl der Genugtuung machte sofort einer tieferen, schläfrigeren Erschöpfung Platz, die viel weitreichender war – er war wie ein Junge inmitten von Spielzeug, dem er entwachsen war, während die anderen Kinder alle noch mit Begeisterung spielten. Bei einem Neunzigjährigen wäre das Gefühl wahrscheinlich die Norm gewesen; wenn ja, sprach es immerhin von Effizienz, dass er schon nach der Hälfte der Zeit an diesem Punkt angelangt war. Es begann am Windsor Place, dessen massige, palastartige Häuser aus den 1920ern er immer bewundert hatte. Auf einmal schien ihm die Arbeit, die es erfordert haben musste, um mit der Laubsäge die Holzschnörkel an der Brüstung der großen, gemauerten Veranden anzufertigen, unbegreiflich; noch unbegreiflicher schien es ihm, dass sich jemand die Mühe machen könnte, dieses eitle architektonische Detail neu zu streichen, zu reparieren oder auszutauschen, und anstatt erneut die geometrische Spitzenverzierung zu bewundern, dachte Jackson: meinetwegen . Und dann dehnte sich in einem schwindelerregenden, wuchtigen Rausch die gleiche schmerzfreie Großzügigkeit auf alles andere aus, ähnlich dieser kleinen Schwelle, die man überschreitet, wenn man seinen Kleiderschrank ausmistet, und anstatt sich über jedes abgelaufene, aber noch tragbare Paar Stiefel den Kopf zu zerbrechen, stellt die Trennung von all dem Plunder, den man ohnehin nie mehr anziehen wird, auf einmal kein Opfer mehr dar, sondern eine Lust. Meinetwegen : nicht nur die sonntäglichen Mittagessen in Bay Ridge, bei denen er vergeblich versucht

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