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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Mutter, um mit ihr die Feiertage zu verbringen. Nicht, dass es ihr viel ausmachte, wenn er nicht käme. Für sie gab es schon sehr lange keine bekannten Gesichter mehr in dieser Welt. Es musste Jahre her sein, seit sie ihn zum letzten Mal mit seinem Namen angesprochen hatte, seit dem sie bei seinem Anblick nicht von Verwirrung und Unsicherheit ergriffen worden war.
    Es tat ihm immer wieder weh, die einst so starke, selbstbewusste Frau nun verzweifelt nach Erinnerungen suchen zu sehen, nach einem winzigen Hinweis darauf, wer der große, fremde Mann, der ihr ruhiges, abgeschiedenes Zimmer betrat, wohl sein könnte. Und dennoch war sie seine Familie, die einzige Familie, die er noch hatte. Diesen einen Tag im Jahr sollte man doch mit seiner Familie verbringen.
     
    Seine Familie! Er schüttelte skeptisch den Kopf. Bevor ihr Gehirn angefangen hatte zu zerfallen, war es ihr stetiges Bemühen gewesen, ihn dazu zu bewegen, eine eigene Familie zu gründen. Sie war nicht müde geworden, ihm immer wieder ‘zufällig’ vorbeikommende junge Frauen aus der Nachbarschaft vorzustellen, jede einzelne von ihnen ausnehmend hübsch, klug und charmant. Und doch hatte es ihm jedes Mal, wenn auch vielleicht nicht an Interesse, dann doch an Zeit gefehlt. Wie oft war er mitten in einer netten Plauderei abkommandiert worden, oder hatte sich gleich im Vornherein für seinen kurzen Aufenthalt entschuldigen müssen. Sie hatte sich niemals beschwert, im Gegenteil, war sie doch stolz auf ihren ehrgeizigen Sohn, der die Nachteile seines Berufes mit so viel Pflichtbewusstsein in Kauf nahm.
    Doch jetzt war er ein Fremder für sie. Worte wie Tapferkeit oder Pflichterfüllung hatten ihre Bedeutung verloren. Die Pflegerinnen, die geduldig für sie sorgten, trugen Gesichter, mit denen sie noch einen Wiedererkennungswert verbinden konnte, und er hoffte für sie, dass es solange wie möglich auch so bleiben werde.
     
    Mit Lilly hätte sie sich vermutlich nicht so schnell anfreunden können, gegen ein weißes Gesicht in ihrer Familie hätte sich ihr Stolz gewehrt. Wie oft hatte sie gegen ihre afro-amerikanischen Brüder gewettert, die ihr Erbe verleugneten und sich eine weiße Frau auswählten. Malcolm war mit diesen Gedanken aufgezogen worden, so dass es ihm niemals in den Sinn gekommen wäre, mit einer Frau wie Lilly auch nur auszugehen.
    Und doch, war es bei ihr etwas anderes. Was sie teilten, war eine Seelenverwandtschaft, die über alles Äußerliche und Körperliche hinausging.
    Er seufzte und fuhr sich durch die kurzgeschorenen Haare. Es hatte keinen Zweck, sich damit zu quälen. So schön die Zeit mit ihr gewesen war, er hatte doch gewusst, dass sie nicht andauern konnte. Und dazu, war es unübersehbar, dass Lilly immer noch mehr für ihren Mann empfand, als er jemals für sich erhoffen konnte. Nach seinem Tod war sie zusammengebrochen, doch letztlich hatte auch das dem Fortgang der Ereignisse keinen Abbruch getan. Das Leben musste weitergehen.
    Und nun verbrachte sie die Feiertage bei ihrem Vater, der sich langsam von seinem Schlaganfall erholte, und Malcolm wehrte sich dagegen, den Schmerz anzuerkennen, den der Gedanke, sie könnte nicht mehr zu ihm zurückkehren, in ihm auslöste.
     Unbewusst nahm er eine Bewegung wahr, und wandte sich Richtung Eingang, ließ beinahe die Akte fallen, die er im Begriff war, einzuordnen.
    “Lilly, was tust du denn hier?”
    Mit schnellen Schritten näherte sie sich ihm. Ihr weiches Haar folgte den Bewegungen ihrer Füße.
    “Ich habe gehört, dass du heute alleine bist.” Sie lächelte. “Und ich dachte, wir könnten uns gegenseitig Gesellschaft leisten.”
     * * *

Zeit der Veränderung
    “Was wollen Sie von mir?” Donna betrachtete den Mann argwöhnisch, der sie unerwartet, wenn auch nicht unbedingt gegen ihren Willen aus dem Unterricht geholt hatte. Merkwürdig genug, dass er überhaupt die Möglichkeit hatte, einfach so in dieses, ihr verhasstes ‘Gefängnis’ hineinzuspazieren und sie ohne viel Papierkram mit nach draußen zu nehmen. Im Geiste verlieh sie der Institution schon seit langem keinen anderen Titel mehr als den bereits erwähnten, auch wenn sich die Aufseher, mit Rücksicht auf das Alter der Insassen, eine etwas freundlichere Bezeichnung ausgesucht hatten.
    Sozialarbeiter, Jugendpsychologen, all diese wohlmeinenden Menschen kannte sie bereits zu Genüge, wusste lange im Voraus, auf was sie hinauswollten, worum es ihnen, in ihren immer ähnlicher werdenden Gesprächen ging, und wie sie

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