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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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alle Kleidungsstücke an, die er besaß, schnappte sich seinen Sack und machte sich mit Weiße Schwester und Grauer Bruder auf den Weg zum Berg. Es war ein milder, klarer Abend, und der Pfad zeichnete sich deutlich im Schnee ab – Menschen und Tiere waren bereits dort entlanggegangen.
    Sie hatten die verlassenen Baustellen schon hinter sich gelassen, als er plötzlich leise Musik hörte. Er blieb stehen. Gesang, menschlicher Gesang, drüben am Berg. Die langsam verhallenden Melodien schienen wie Schnee vom Himmel herabzuschweben. Sie erfüllten die Luft ringsum mit etwas Leichtem, Lieblichem, wie dem Duft von Frühlingsblumen.
    Er würde später nach Nahrung suchen. Weiße Schwester und Grauer Bruder folgten ihm ohne Zögern und liefen auf den Wald und die Feuer zu. Er mochte die Feuer, war ihnen aber noch nie nahegekommen. Die Menschen hier wussten, dass er keiner von ihnen war, und vermutlich brach er ihre Regeln, überschritt ihre unsichtbaren geschlossenen Pfade und verstieß gegen ihre Ordnung. Romotschka war schneller und leiser als sie, und außerdem hatte er die Hunde: Eigentlich drohte ihm keine Gefahr. Doch er konnte sich nicht hinüberschleichen und zu den Menschen ans Feuer setzen, ohne verjagt zu werden.
    Die Musik schwoll an und lockte ihn näher. Im orangefarbenen Lichtschein brieten die Männer das Hinterviertel eines geschlachteten Hundes. Sein Fell und sein Kopf lagen im blutbefleckten Schnee. Er kannte den Hund nicht, doch der Geruch sagte ihm, dass es wahrscheinlich einer aus dem Dorf war, kein Rudelhund. In ein paar Tagen würde jemand diesen goldenen Pelz tragen. Der Geruch von gebratenem Fleisch war verlockend. Weiße Schwester und Grauer Bruder zogen sich in den Wald zurück, und Romotschka schlich lautlos zu den Birken am Rand des Kreises. Das Feuer war so heiß, dass er spürte, wie selbst aus dieser Entfernung ein warmer Hauch in seinen Körper drang. Männer und Frauen standen ums Feuer, wärmten ihre Hände an den Flammen und sangen. Das Lied war traurig und schön, und obwohl Romotschka all diese Menschen vom Sehen, Hören und Riechen kannte, kamen sie ihm jetzt fremd vor, auf geheimnisvolle Weise verwandelt. In seiner Brust brannte eine Art Hungergefühl, doch es lag näher an der Kehle. Er wünschte, er hätte etwas, woran er nagen könnte.
    Die Frauenstimmen erhoben sich, stiegen auf in die wirbelnde Luft und erfüllten das Nichts über ihm mit Schmerz und Sehnsucht. Die Männerstimmen schienen von der Erde in den Himmel hinaufzuklettern und wieder herabzustürzen, und Romotschka hatte das Gefühl, als würden sie ihr Scheitern beweinen. Die Frauenstimmen schwebten freiwillig die Leiter herab, die ihre wechselnden Noten aufgerichtet hatten, und stiegen dann herunter, um sich gemeinsam mit den Männern in langen Akkorden auszuruhen.
    Er hatte das Gefühl, er könnte platzen vor Verlangen zu schreien, zu heulen oder davonzulaufen. Doch er blieb reglos stehen, verschmolzen mit dem Schatten des Birkenstamms. Die Stimmen erhoben sich wieder im selben ungestümen Refrain, und ein hoffnungsvolles Krächzen oder Stöhnen entschlüpfte seiner eigenen Kehle. Eine Frau, die ein großes schlafendes Mädchen im Arm hielt, hörte auf zu singen, drehte sich um und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Die Menschen am Feuer sangen weiter, doch Romotschka hörte, dass plötzlich etwas fehlte, und begriff, dass es ihre Stimme gewesen sein musste, die über den anderen geschwebt hatte. Sie starrte genau in seine Richtung, konnte ihn aber nicht sehen. Er stand völlig reglos da. Ihre Arme umklammerten das dick eingemummte Kind, und er sah ihren zerrissenen Mantelsaum, der sich vor dem Feuer abzeichnete. Ihr Mund wirkte breit, als würde sie in die Dunkelheit lächeln. Plötzlich hatte er große Angst vor ihr.
    Sie trat einen Schritt auf ihn zu, sodass er ihr Gesicht ganz deutlich sehen konnte. Er kannte sie, hatte sie aber noch nie in Ruhe betrachtet. Sie war jung und schön und hatte eine riesige Narbe, die sich von der Stirn bis zum Kinn mitten durch ihr Gesicht zog und Nase und Lippen in zwei Hälften teilte. Es sah nur so aus, als würde sie lächeln – dieNarbe vermittelte diesen Eindruck. Er wusste, in welcher Hütte sie wohnte, und kannte den Klang ihrer Schreie. Er kannte auch ihre magere Tochter. » Irena! Irena! Geh nicht so weit weg! « Dieselbe Stimme.
    Er hatte keine Angst mehr. Die Herrlichkeit ihres Gesangs klang ihm noch immer in den Ohren. Plötzlich trat er unwillkürlich aus dem

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