Doppelspiel
alles?«
»Oh, eine Sache wäre da noch. Ich wollte sichergehen, dass du dir nicht mehr die Seele aus dem Leib kotzt. Ich habe deswegen nämlich ein schlechtes Gewissen, und ich war auf dem Boot wohl nicht ganz so mitfühlend, wie ich es eigentlich hätte sein sollen.«
Damit rang er Reggie ein schwaches Lächeln ab. »Nun ja, mir ist tatsächlich noch immer leicht übel, aber langsam geht’s wieder.« Sie hielt kurz inne und steckte vorsichtig die Spritze weg. »Weiß dein Boss, dass du hier bist?«
»Wir sind nicht immer auf einer Wellenlänge.«
Reggie schaute noch einmal zu dem alten Herrenhaus. »Das kann ich nachvollziehen. Wie lange wirst du in England bleiben?«
»Das hängt davon ab.«
»Wovon?«
»Ob du heute Abend mit mir essen gehst. Falls ja, dann bleibe ich noch mindestens einen Tag. Falls nein, dann verschwinde ich sofort.«
Reggie senkte den Blick.
»Kannst du grad nicht weg von hier?«, fragte Shaw.
»Eigentlich haben wir sogar erst einmal freibekommen. Aber wenn dich jemand sieht. Whit oder …«
»Es wird mich niemand sehen. Ich werde auf dem gleichen Weg wieder verschwinden, wie ich gekommen bin. Mit Herumschleichen verdiene ich mein Geld. Aber um sicherzugehen, sollten wir uns in London treffen. Sagen wir um acht?« Shaw nannte ihr den Namen einer Nebenstraße am Trafalgar Square. »Dann können wir uns einen schönen Laden suchen.«
»Habe ich Zeit, mir das zu überlegen?«
»Klar. Entweder sagst du jetzt was, oder ich fliege heute Abend. Und ich bezweifele, dass ich wieder zurückkommen werde, Reggie.«
»Du lässt einem Mädchen wirklich nicht viel Zeit.«
»Ja, das stimmt wohl.«
»Also schön. Aber über was sollen wir beim Essen reden?«
»Oh, ich bin sicher, wir finden etwas, das uns beide interessiert. Und wenn wir Glück haben, ist es auch noch amüsant.« Er ließ seinen Blick über den Friedhof schweifen. »Und es wird dich vielleicht auch ein wenig aufheitern. Sieht so aus, als könntest du das gebrauchen.«
»Es kommt dir sicher seltsam vor, dass ich hier sitze und Gräber anstarre.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich das auch tue.«
Kapitel neunundsechzig
F edir Kuchin hatte nichts, und weil er nichts hatte, wuchs sein Frust. Nervös lief er in der dreitausend Quadratfuß großen Luxushütte auf und ab. Sie lag nahe dem Meer, dessen Wassertemperatur selbst im August nur selten über zehn Grad Celsius erreichte. Kuchins Stimmung stand in direktem Zusammenhang zum Versagen seiner Untergebenen. Alan Rice hatte sich den Zugang zu einem Dutzend Datenbanken erkauft, aber sie hatten weder mit den Zeichnungen noch mit dem Foto auch nur einen einzigen Treffer erzielt. Und auch andere Nachforschungen waren erfolglos im Sande verlaufen. Kuchin ballte immer wieder die Fäuste und suchte verzweifelt nach einem Weg, doch noch etwas herauszufinden.
Schließlich zog Kuchin sich einen Parka an und ging hinaus. Er hatte ein Gewehr mit Fernrohr dabei und ein paar Patronen. Es war Sommer, obwohl das Wetter etwas anderes vermuten ließ. Es war zwar nicht kalt genug, als dass es geschneit hätte, aber als Kuchin sich umschaute, fühlte er sich von der Landschaft stark an seinen Geburtsort in der Ukraine erinnert. Vielleicht hatte er sich deshalb ja mitten im Nirgendwo ein Heim gebaut. Kuchin hatte zwei Leibwächter dabei, die jedoch in einem anderen Gebäude wohnten, fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt. Doch hier draußen war auch nicht mit Gefahr zu rechnen … Es sei denn, man wurde von einem Elch oder Karibu über den Haufen gerannt.
Kuchin wanderte über das Gelände und erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge immer seinem Vater hinterhergelaufen war, wenn der zur Arbeit gestapft war. Er hatte auf einem großen Fischtrawler im Asowschen Meer gearbeitet. Das Meer maß vierzigtausend Quadratkilometer, war an seinem tiefsten Punkt aber nur fünfzehn Meter tief. Tatsächlich handelte es sich um das flachste Meer der Welt. Aus diesem Grund wurde das Wasser auch besonders schnell umgewälzt. Allerdings hieß das noch lange nicht, dass es deshalb auch frisch war. Als Kuchin ein Kind gewesen war, leiteten die umliegenden Industrien, vor allem die Öl- und Gasbohrtürme, bereits Unmengen von Umweltgiften hinein.
In den 70ern wurden dann erstmals Tausende toter Fische angeschwemmt, eindeutig Opfer der Umweltverschmutzung. Heutzutage käme es gar einem Selbstmord gleich, dort zu schwimmen. Doch alle Kinder in Kuchins Dorf hatten die Sommer im Wasser verbracht, das
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