Drachenseele (German Edition)
müsste doch schon längst von der Trauerfeier aus Stralsund zurück sein. Hoffentlich war unterwegs nichts passiert. Als er sie kommen sah, wurde ihm richtig warm ums Herz. Sie ging nicht zuerst in ihre Wohnung, wie er es erwartet hatte, sondern klopfte bei ihm an die Tür.
Sie wirkte aufgeregt. „Ich glaube, Clara mochte dich sehr. Sie hat viele Tränen vergossen.“ Nicole setzte sich in den Sessel, hielt dabei einen alten Schuhkarton in den Händen. „Ich fühle mich ihr gegenüber wie ein Verräter.“ Dies war wirklich ein mieses Gefühl.
„Anderseits, welche Möglichkeiten blieben mir denn?“
„Mach dir keine Sorgen. Das Kinderheim ist die beste Ablenkung für sie. In dieser Aufgabe geht sie auf.“
„Das ist wahr!“ Er dachte zurück, wie oft sie ihn getröstet hatte, wenn er als Heimkind mal wieder vor den Kopf gestoßen wurde.
„Setzt dich bitte.“ Nicole streichelte den Karton auf ihrem Schoß, als hätte sie eine besondere Kostbarkeit darin versteckt.
„Was ist das?“ Sein Blick klebte auf dem Schuhkarton, als er sich in den Sessel fallen ließ. Nicole starrte ihn an. Sie sagte nichts, bestimmt fünf Minuten lang.
„Nicole? Was soll das werden?“ Marcus spürte wie sein Mund ganz trocken wurde.
„Ich habe selbst noch nicht rein schauen können. Nun zweifle ich gerade, ob ich das Richtige tue.“
„Ich verstehe dich nicht.“ Marcus bemerkte ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Was nur in diesem Karton sein konnte?
„Clara hat dir erzählt, dass man dich an einem Sonntag am Stadtrand gefunden hat.“ Marcus nickte. „Das stimmt wohl nicht so ganz. Sie hielt es für richtig, dir diese Dinge hier vorzuenthalten.“
Marcus stand auf. „Sag bloß?“ Er spürte innere Hitze in seinem Gesicht. Es gab also doch Hinweise, die zu seinen Eltern führten. Der Augenblick der Wahrheit lag zwei Schritte von ihm entfernt.
„Deine Pflegeeltern haben dich im Kinderheim abgegeben.“ Nicole schob endlich den Deckel zur Seite. Marcus Hände zitterten vor Aufregung, als er die Papiere darin in die Hand nahm. Das Geheimnis seiner Herkunft war all die Jahre über in diesem Karton. Zehn Minuten später lagen Adoptionspapiere, Bericht vom Jugendamt sowie zahlreiche andere Dokumente auf dem Boden verteilt.
Marcus war durch fünf verschiedene Familien gereicht worden, bis er mit vier Jahren nach Stralsund ins Heim kam. In der einen Pflegefamilie tauchten Alkoholprobleme auf. Die nächste war durch eine Brandkatastrophe überfordert und die letzten Pflegeeltern, die ihn im Heim abgegeben hatten, seien mit Ma r cus’ Wutanfällen nicht klar gekommen. Diese Tatsachen b e rührten Marcus wenig. Er fühlte die bittere Enttäuschung in sich wachsen, denn zwischen all den Unterlagen existierte keine Geburtsurkunde mit dem Namen seiner Eltern, seiner wahren Abstammung. Clara hatte Recht, der ganze Papierkram brachte ihn nicht weiter.
„Weißt du, was ich interessant finde?“, unterbrach Nicole seine Gedanken. „Die erste Familie, die dich adoptiert hatte, kam nach Hamburg, als du ein halbes Jahr alt warst.“
„Was soll daran interessant sein?“ Die Enttäuschung schmerzte in seiner Brust.
„Du hast dir die Papiere nicht wirklich angesehen.“ Nicole hielt ihm das Dokument vor die Nase. „Sie kamen aus England.“
Stones!
Es gab eine Verbindung zu diesem Verrückten.
„Deshalb kann dir hier keiner weiterhelfen, Marcus. Du musst in England suchen.“
Wie sollte er ohne Job jemals an so viel Geld kommen, um ins Ausland zu reisen? „Verdammt!“ Wo er auch hinsah, er kam nicht weiter. Wütend stieß er den Schuhkarton zur Seite. Ein vergilbtes Blatt rutschte heraus. Offensichtlich hatte der Karton einen zweiten Boden. Durch Marcus Stoß kamen mehrere vergilbte Zeitungsartikel zum Vorschein. Vermutlich nichts Wic h tiges. Marcus hob die Zeitungsausschnitte auf. „Saint Pierre Port News? Wo liegt Saint Pierre Port?“ Eindeutig handelte es sich um eine englische Zeitung. Marcus bemühte sich beim Vo r lesen gleich zu übersetzten.
Höhlenkinder
Gestern fand ein Spaziergänger mit seinem Hund drei Kinder in einer der Küstenhöhlen. Durch den zurzeit ungewöhnlich massiven Rückgang der Gezeiten gelang es dem kühnen Spaziergänger vor dem Einsetzen der Flut, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Zustand der Kinder wird von Seiten des Kra n kenhauses als äußerst kritisch bezeichnet. Alle drei seien stark unterernährt. Ihre kleinen nackten Körper waren zudem lebensbedrohlich
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