Drachenseele (German Edition)
her schwamm. Als Wasserdrache hatte er ihn ja noch nie zu Gesicht bekommen. Wie er seinem Artgenossen ins offene Meer folgte, spürte er eine vertraute und doch verhasste Enge um seinen Hals. Es war kein Metallhalsband, sondern mehr etwas Weiches, wie er von Stones erhalten hatte, als er zu Nicole gereist war. Nathus gewährte ihm also einen Ausflug ins Meer. Um eine Flucht auszuschließen, gab es dieses Foltergerät. Mit Schaudern dachte er an seine Erfahrung mit Stones in der Höhle zurück. Nein, dieses Erlebnis musste er nicht wiederholen. Er wollte Nathus wie ein Lämmchen folgen.
So wohltuend das Schwimmen im Meer auch war, sein Appetit blieb unverändert. Jeden Flügelschlag genoss Narvalvar mit all seinen Sinnen. Dieses Im-Wasser-dahingleiten, diese Lebe n digkeit gab ihm ein Gefühl von Euphorie. Während Nathus sich den Bauch mit Fischen voll schlug, versuchte Narvalvar diesen Moment von Glück in sich aufzunehmen. Bestimmt ging es bald wieder in den Kerker zurück, umso mehr würde er dann von diesem Ausflug zehren.
Nathus schaute sich kurz um, ob ihm sein Schützling auch folgte. Danach steuerte er die Wasseroberfläche an. Narvalvar wagte es kaum zu hoffen, doch tatsächlich verließen sie das Meer und flogen über eine große Insel. Was für ein erhebendes Gefühl, endlich mal wieder zu fliegen. Nathus vergewisserte sich ständig, ob Narvalvar auch hinter ihm blieb. Am Horizont kündigte der helle Streifen den baldigen Sonnenaufgang an. Wenn Nathus mit ihm weiterflog, konnte es nur eines bedeuten, er durfte sich in Marcus verwandeln. Hatte Nathus nicht gesagt, dass sie genau das vermeiden wollten? Welchen Sinn hatte dieser Ausflug also wirklich? Nathus steuerte eine kleine entlegene Insel an. An der nördlichen Steilküste entdeckte Narvalvar ein unscheinbares Haus. An der östlichen Giebelwand stand ein Fenster offen. Vor Narvalvars Augen verwandelte sich Nathus vom Drachen zum Menschen. Als er selbst das Fensterbrett mit seinen Füßen berührte, spürte er, wie sein menschlicher Körper zusammensackte. Jegliche Kraft schien ihm zu fehlen.
Vollmond
E in knurrendes Geräusch verlangte nach Aufklärung. Narvalvar öffnete die Augen, er blinzelte mehrmals. Es dauerte eine Weile, bis er sich an das grelle Licht gewöhnt hatte, vor allem bis ihm klar wurde, dass er definitiv nicht in der Höhle erwac h te. Wie er sich aufsetzte, schien ihm die Sonne ins Gesicht. Ein herrliches Gefühl, diese warmen Strahlen auf seiner Haut zu spüren. In diesem Augenblick erklang erneut das Knurren. Es war sein Magen, der sich entsetzlich leer anfühlte.
„Es ist mir eine Ehre Euch in der menschlichen Gestalt kennen zu lernen, Narvalvar.“ Richard saß neben dem Bett auf einem Stuhl.
„Richard!“ Welche Aufgabe hatte er hier zu erfüllen? „Euch gelingt es immer, mir das Gefühl zu vermitteln etwas Besonderes zu sein.“
Richard sah ihm lange ins Gesicht. Lächelnd sagte er: „Ihr seid ein Drache, Ihr seid besonders.“
Narvalvar rieb sich die Stirn, dabei fiel ihm ein, wie Nathus mit ihm hierher geflogen war. „Was ist passiert? Warum bin ich hier?“ Sein Magen knurrte noch mal, diesmal tat es schon richtig weh. Er legte seine Hand auf den Bauch.
„Wie fühlt Ihr Euch?“ Richards Blick wirkte gespannt.
„Verdammt hungrig.“
„Hungrig?“ Er lachte herzhaft. „Großartig! Das ist ganz wunderbar.“ Er stand auf, um zur Tür zu gehen. „Ich bin gleich zurück.“ Während Richard von außen die Tür schloss, hörte ihn Narvalvar noch sagen: „Ich wusste es.“
Welche Bedeutung hatte Richards Anwesenheit? Narvalvar grübelte nach einer Erklärung, doch er fand keine. Er schaute auf seine Hände, streckte die Finger, derweil wurde ihm bewusst, wie er das Menschsein vermisst hatte. Mit dieser Erkenntnis fiel ihm eine Lektion des Generals ein, „deine mensc h liche Tarnung darf dir niemals mehr wert sein, als deine Dr a chengestalt.“ Seine Empfindungen waren vielleicht krankhaft, deshalb war Richard an seiner Seite. Er war nicht normal, nicht wie seine Artgenossen. Narvalvar setzte sich auf, dabei fiel sein Blick auf das weiße Fensterkreuz, dann auf die grün angestr i chenen Holzlatten, die seinen kleinen Raum auskleideten. Wie er auf seine nackten Füße schaute, die die hellen Holzdielen berührten, fragte er sich, wo er eigentlich gelandet war. Wo auch immer diese Faroe Islands lagen, in England stand dieses Holzhaus vermutlich nicht. Während er weiter nachdachte ging die Tür auf.
„Das
Weitere Kostenlose Bücher