Drachenwächter - Die Prophezeiung
Fenster, durch die Licht hereinfiel; weite Teile der Gelehrtenstätte lagen auch des Tags im Dunkeln. Das Mauerwerk war rau und schmucklos.
»Mein Name ist Ardag Namtara«, erklärte der Mann, während er zielsicher durch die Gänge huschte. »Mir obliegt es, die Gärten der Stätte zu pflegen und den Studenten zu Diensten zu sein.«
Nach einem langen Marsch, bei dem Seld den Eindruck hatte, im Kreis durch das Gebäude zu laufen, kamen die beiden an einer Tür an, die aus dem gleichen Holz wie die Pforte der Gelehrtenstätte bestand. Ardag schlug einmal den Messingklopfer, dann stieß er die Tür auf und wies Seld hinein. Nachdem Seld eingetreten war, schloss Ardag die Tür.
Seld stand in einer Bibliothek. Regale, die sich unter dem Gewicht von dicken Büchern, losen Pergamenten und aufgerollten Karten bogen, erstreckten sich zu beiden Seiten. Die Decke war niedrig – Selds Haare strichen an ihr entlang, als er einen Schritt nach vorn machte, und er zog den Kopf ein wenig ein.
Zwischen den Regalen im Mittelgang erschien ein Mann mit einem Buch, das er aufgeschlagen in der rechten Hand hielt. Er warf Seld einen Seitenblick zu. »Einen Moment, bitte.« Der Mann verschwand zwischen den Regalen und tauchte kurz darauf wieder vor Seld auf, besah diesen von unten nach oben. »Ich bin Kolun Fer, der Oberste Gelehrte.« Kolun Fer hatte eine Glatze und ein faltenreiches Gesicht. Mit seinen hellen Augen schien er niemals zu blinzeln. Auf seinen Händen, die aus den Ärmeln seines schwarzen Gewandes ragten, erkannte Seld die Konturen jedes einzelnen Knochens, und Altersflecken bedeckten die Haut.
Seld deutete eine Verneigung an. »Seld Esan aus Hequis im Nordostland.«
»Bitte folgt mir«, forderte ihn der Oberste Gelehrte auf und schritt durch den Raum, bis er an einem Schreibtisch ankam, der unter Bergen von Büchern und Pergamenten kaum zu sehen war. Durch zwei schmale Fenster hinter dem Tisch fiel ein wenig Licht in den Raum. Kolun wies Seld zu den Schemeln, die vor dem Tisch standen und setzte sich selbst hinter den Tisch in einen hohen, verzierten Stuhl.
»Ich vermute, Euer Begehr hängt mit den Drachen zusammen.«
Seld wusste nicht, ob er diesem Mann von den Geistesreisen erzählen sollte. Vielleicht war er seinem Herrscher treu ergeben, und so würde Talut Bas etwas erfahren, was er nicht wissen sollte. Aber vielleicht konnte Seld dem Mann, dem er gegenübersaß, auch vertrauen. Doch zunächst wollte er nicht alles offenbaren. »Ja, es geht um die Drachen«, bestätigte Seld. »Unsere Gemeinschaft hat unser Heimatdorf verlassen, weil wir die Dämonen fürchten. Ich möchte wissen, warum die Drachen die Berge verlassen haben und wann wir wieder zurückkehren können. Gibt es vielleicht eine Prophezeiung, die all dies vorhergesagt hat?«
Die Augen des Obersten Gelehrten rührten sich nicht, und der glatzköpfige Mann wirkte, als hätten ihn die Worte seines Gegenübers erstarren lassen. »Nein«, antwortete er mit einer Stimme, die ungleich sanfter klang. »Es gibt viele Prophezeiungen über die Drachen, doch keine hat vorhergesagt, dass die Drachen jemals die Koan-Berge verlassen würden.«
»Ich hörte von einer Prophezeiung, über die ich mehr wissen möchte«, gab Seld zurück. »Die Prophezeiung des Bematu.«
Der Oberste Gelehrte fuhr in die Höhe. »Woher wisst Ihr von dieser Prophezeiung? Wer hat Euch davon erzählt?«
Seld blickte erstaunt sein Gegenüber an. Er hatte nicht erwartet, dass dieser Mann derart schnell die Fassung verlieren könnte. »Ein alter Mann, den ich auf unserer Reise kennen gelernt hatte, erzählte mir, dass diese Prophezeiung von den Drachen berichtet. Unterwegs ist er verstorben, bevor er mir darüber berichten konnte.«
»Geht«, sagte der Oberste Gelehrte leise.
»Wollt oder dürft Ihr nicht über die Prophezeiung reden?«, fragte Seld.
»Geht.«
Seld erhob sich und verließ den Raum.
Durch das Labyrinth der Gänge ging Seld zurück zur Pforte. Als er den Innenhof durchquerte, tauchte Ardag Namtara vor ihm auf.
»Eine kurze Audienz«, meinte er.
Ein Lächeln huschte über Selds Gesicht. »Der Oberste Gelehrte wird sehr schmallippig, wenn man auf die Prophezeiungen zu sprechen kommt.« Langsam ging er weiter, und Ardag blieb an seiner Seite.
»Es kommt auf die Prophezeiung an«, sagte der alte Mann. »Wenn er Euch von Prophezeiungen erzählen soll, die das goldene Zeitalter verheißen, wird er Euch gerne die Zeichen aufzählen, die darauf hinweisen, dass Talut Bas
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