Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
dir!«
Wieder umarmten wir einander lachend. Seit dem Tag seiner Abreise vor so vielen Monaten hatte ich Jonathan nicht so glücklich
und selbstbewusst gesehen. Schon bald verebbte jedoch unsere übermütige Stimmung, denn wir begannen zu ahnen, was uns nun
bevorstand.
»Wenn all das auf der Wahrheit beruht«, sagte Jonathan, während er in zunehmendem Schrecken den Kopf schüttelte, »was für
einem Geschöpf habe ich dann in meiner Unwissenheit geholfen, nach London umzuziehen?«
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9
Am nächsten Morgen holte Jonathan Dr. van Helsing von seinem Hotel ab. Als die beiden in unserem Haus ankamen, waren sie so
ins Gespräch vertieft, dass niemand geglaubt hätte, dass sie einander gerade erst kennengelernt hatten. Sie schienen schon
seit Jahren befreundet zu sein.
»Sie meinen also, dass ich am Piccadilly tatsächlich Graf Dracula gesehen habe?«, fragte Jonathan, als wir drei am Esstisch
saßen und uns Rührei und Räucherhering schmecken ließen.
»Höchstwahrscheinlich«, antwortete Dr. van Helsing.
»Aber wenn er es war, dann ist er jünger geworden! Wie ist das möglich? Und was ist mit all den anderen Dingen, die ich in
der Burg gesehen habe? Wie kann dergleichen möglich sein?«
»Es gibt keine einfache Antwort auf diese Fragen, Herr Harker. Ich habe die Aufzeichnungen gelesen, die Sie und Ihre Frau
so aufrichtig und detailliert gemacht haben. Sie sind helle Köpfe und haben einen klaren Verstand. Ich muss Sie |190| etwas fragen: Haben Sie nach allem, was Sie gesehen und erfahren haben, eine Vorstellung, ja auch nur einen Verdacht, mit
welcher Art von Geschöpf wir es hier zu tun haben?«
Jonathan schaute mich kurz an und schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht, Herr Doktor.«
»Als ich Jonathans Tagebuch las, da dachte ich, da habe ich mich gefragt …«, hob ich an. Dann zögerte ich und errötete.
»Was haben Sie sich gefragt, Frau Mina?«
»Nichts. Es ist zu weit hergeholt, zu lächerlich.«
»Ach«, antwortete Dr. van Helsing mit einem Seufzer, »es ist der Fehler unserer Wissenschaft, dass sie alles zu erklären wünscht.
Deswegen reagieren Sie so. Und doch sehen wir jeden Tag um uns herum Ideen auftauchen, die sich selbst für neu halten, aber
uralt sind. Sagen Sie mir, glauben Sie an Hypnotismus?«
»Hypnotismus?«, sinnierte Jonathan laut. »Früher habe ich nicht daran geglaubt, inzwischen jedoch wahrscheinlich schon, nachdem
ich von den Arbeiten des Jean-Martin Charcot gelesen habe.«
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Charcots Berichte sind wirklich faszinierend. Er hat bewiesen, dass er in der tiefsten Seele derer
lesen kann, die seinem Einfluss unterworfen sind.«
»Dann sind Sie also überzeugt, dass Hypnotismus möglich ist, eine überprüfbare wissenschaftliche Tatsache?« Wir nickten beide,
und Dr. van Helsing fuhr fort: »Daraus, denke ich, müssten Sie also auch ableiten, dass es Gedankenübertragung gibt?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Jonathan.
»Und wie steht es mit Doppelgängerei? Oder Materialisation?«
»Sehen Sie, Herr Doktor«, antwortete Jonathan mit gerunzelter Stirn, »Sie haben mir bestätigt, dass alles, was mir in Transsilvanien
zugestoßen ist, auf der Wahrheit beruht. Es ist mir eine Zentnerlast von der Seele gefallen, nun da ich weiß, dass ich nicht
alles in einem Anfall von Irresein heraufbeschworen habe. Ich verstehe jedoch noch immer nicht, wie all |191| dies möglich gewesen sein soll. Genauso wenig begreife ich, worauf Sie hinauswollen.«
»Das liegt daran, dass Sie wie ein Advokat denken, junger Freund. Ihnen geht es nur um sogenannte Tatsachen. Nur wenn Sie
etwas verstehen können, dann existiert es. Ich sage Ihnen, es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen können und die trotzdem
existieren. Galileo hatte die Wahrheit über Himmel und Erde begriffen und wurde deswegen der Ketzerei für schuldig befunden.
Lassen Sie sich sagen, die Wissenschaft vollbringt heute auf dem Gebiet der Elektrizität Dinge, die von den Erfindern der
Elektrizität selbst als Gotteslästerung verdammt worden wären, für welche man vor nicht allzu langer Zeit als Hexenmeister
den Scheiterhaufen hätte besteigen müssen! Kennen Sie alle Geheimnisse um Leben und Tod? Können Sie mir sagen, wie es die
indischen Fakire machen, dass sie sterben und begraben werden, dass man ihr Grab versiegelt und Getreide darauf sät, viele
Generationen hindurch immer wieder, und wenn dann Leute kommen und den Sarg ausgraben und das
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