Dray Prescot 01-Transit nach Scopio
hervorzog, die er von seiner letzten Mahlzeit übrigbehalten hatte. Wir aßen heißhungrig und ließen keine Brosame übrig.
Angesichts der Umstände war der Rest unserer Flucht nicht sonderlich schwierig. Wir krochen durch ein stinkendes Abwasserrohr. Gloag war ein vorzüglicher Kundschafter. Wir schwammen ein Stück den Kanal entlang, stahlen ein Boot und ruderten im düsteren Schein der drei kleineren kregischen Monde davon. Die nahen Monde dieser Welt bewegen sich sichtbar am Firmament.
Eine Flucht aus der Stadt kam ohne Flugboot nicht in Frage, und wir mußten damit rechnen, daß die Stadthüter die Flugplätze bewachten. Ich erkundigte mich diskret bei Sklaven, und schließlich stellte Gloag die genaue Lage der Insel mit der Enklave der Ewards fest. Ich ging ein großes Risiko ein, doch ich hatte auch einen Trumpf im Ärmel.
Natürlich würde in der Stadt große Aufregung herrschen über die Flucht von Sklaven, zumal sie aus dem herrschenden Haus der Stadt stammten – und es mochte sein, daß wir sofort zurückgebracht wurden. Aber das nahm ich eigentlich nicht an. Die Häuser Eward und Esztercari waren bittere Feinde. Leise ruderten wir zum Steinkai, von wo aus uns Männer in der hellblauen Kleidung der Ewards zu einem Gespräch mit dem Chef des Hauses brachten. Ich trat ziemlich arrogant auf. Ein Vovetier kann sich so autoritär und großspurig geben wie jeder andere, der ein Kommando führt.
Unser Gespräch verlief in entspannter Atmosphäre. Wanek aus der Familie Wanek des Noblen Hauses Eward erinnerte mich ausgerechnet an Cydones von Esztercari. Beide Männer besaßen einen unstillbaren Machthunger. Wanek saß vor mir in seiner blauen Robe, eine Faust auf dem Knie, und hörte mir zu. Als ich fertig war, ließ er Wein und einige Sklavinnen kommen, die sich um Delia kümmern sollten.
»Ich heiße dich bei den Ewards willkommen, Dray Prescot«, sagte Wanek, und wir setzten uns zu Tisch. Die Sonnen warfen ihren rotgoldenen Schein auf die morgendlichen Dächer. »Mein Sohn, Prinz Varden, ist im Augenblick nicht hier. Aber es wird mir eine Ehre sein, euch zu helfen. Wir sind nicht wie die Rasts der Esztercari.« Seine Finger massierten das Kinn, und die Knöchel wurden weiß. »Die geplante Vereinigung zwischen ihrer Prinzessin und dem harmlosen Pracek ist eine ernste Angelegenheit.« Und er begann einen langen Bericht über die verworrene Machtpolitik in der Stadt.
Die Generalversammlung tagte in Permanenz. In ihren Beratungen und Debatten und Gesetzesverkündungen gab es keine Pause. Die Versammlung umfaßte vierhundertundachtzig Sitze. In der Stadt gab es vierundzwanzig Häuser, bürgerliche wie von Adel, so daß im Durchschnitt zwanzig Sitze auf jedes Haus entfielen. Einige, etwa die Esztercaris, nannten mehr Mandate ihr eigen, nämlich fünfundzwanzig, so auch die Ewards. Die Probleme ergaben sich erst aus den Bündnissen und Pakten zwischen zahlreichen Häusern, so daß eine Gruppe immer die Mehrheit hatte. Als ich das Durchstehvermögen der Abgeordneten bewunderte, lachte Wanek und erklärte mir, daß nur die Sitze zählten. Jeder Angehörige eines Hauses konnte die Sitze wahrnehmen, die seinem Haus reserviert waren. Nur die Zahl der Sitze brachte die Macht; die Männer, die die einzelnen Mandate hielten, kamen und gingen beständig, oft nach einem festen Plan, ähnlich wie beim Wachwechsel der Rudergänger auf See.
»Und die Esztercaris haben die meisten Häuser auf ihrer Seite, und Cydones Esztercari ist Kodifex von Zenicce!«
Eindeutig lag hier die Ursache der Verstimmung Waneks aus dem Hause Eward. Offensichtlich war er der Meinung, er müsse Kodifex der Stadt sein, der anerkannte Führer der mächtigsten Koalition.
In der nächsten halben Stunde erhielt ich Einblick in einen weiteren interessanten Lebensaspekt der Stadt. Ein alter bärtiger Mann in grauer Sklavenkleidung wurde gerufen. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit entfernte er das Brandzeichen von Gloags Schulter. Am liebsten hätte er sofort seine Eisen heiß gemacht und Gloag neu gebrandet – mit den Buchstaben ›W. E.‹. Doch ich hielt ihn davon ab.
»Gloag ist frei«, sagte ich.
Wanek nickte. »Offensichtlich seid ihr beide frei, du und Delia aus den Blauen Bergen, denn ihr seid nicht gebrandet. Deshalb gilt das gleiche für euren Freund Gloag.« Er schickte den Sklavenmeister wieder fort. »Ich lasse seine Haut pflegen; man wird die Narbe bald nicht mehr sehen.« Er lachte leise, ein überraschender und doch passender Laut.
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