Dread Empire's Fall 02 - Sternendämmerung
von den Vorzügen eines Plans überzeugen, den sich gesellschaftlich unter ihnen Stehende ausgedacht hatten.
Vor wenigen Tagen hätte er über diese Idee lauthals gelacht. Seit dem Gespräch mit Martinez hatte sich alles geändert.
Im Geiste stellte er bereits eine Liste von Personen auf, mit denen er reden musste. Einige standen Saïds Regierung nahe, andere nicht.
Er betrat sein eigenes Büro und wies seinen Sekretär an, den Kontakt zu der ersten Person auf der Liste herzustellen.
Eine Künstlerin betrat die Bühne. Sie trug das traditionelle Rüschenkleid der Derivoo-Sängerinnen, ihr Haar war zu einem nach vorn geneigten Turm frisiert, und ihr Gesicht war weiß geschminkt. Auf jeder Wange hatte sie einen roten Kreis.
Das Publikum schwieg erwartungsvoll. Nur von drei Musikern begleitet, begann sie mit ihrem Vortrag. Das Lied handelte von Liebe und Sehnsucht, und die wundervolle Stimme der Künstlerin liebkoste jede Silbe, als hauchte sie einem Geliebten etwas ins Ohr. Ihre Hände, weiß geschminkt wie das Gesicht, flatterten wie Tauben in der Luft und untermalten die Worte. Manchmal hielt sie inne, steigerte die Spannung mit einer Pause, worauf Sula unwillkürlich den Atem anhielt, bis die Sängerin fortfuhr und die Spannung wieder abbaute.
Danach brandete begeisterter Applaus auf. Bisher hatte Sula Derivoo-Darbietungen nur im Video gesehen. Ihr war nicht klar, wie eindrucksvoll ein solches Konzert sein konnte.
»Ist sie nicht wundervoll?«, fragte Martinez.
»Ja.« Er nahm ihre Hand. Seine Hand war groß und warm und nicht zu feucht. Insgesamt, dachte Sula, war es eine gute Hand.
Die Sängerin setzte ihren Vortrag fort. Das nächste Lied handelte vom Tod, von einer Mutter, die das Schicksal anflehte, ihr das Kind zurückzugeben. Zuvor hatte die Stimme zärtlich geklungen, jetzt wurde sie verzweifelt und schneidend. Nach dem Vortrag rollte eine einsame Träne über das weiße Gesicht der Sängerin.
Sula zog die Hand zurück und applaudierte. Ihr war, als liefe Säure durch ihre Nervenbahnen, aus irgendeinem Grund fühlte es sich zugleich aber auch gut an. Die Lieder über Trauer und Liebe lenkten den Blick auf das Wirken des Universums, auf etwas Wahres, Ursprüngliches und Großes. Natürlich standen häufig Tod und Sehnsucht im Mittelpunkt, die unveränderlichen Fixpunkte des Lebens. Das, so sagten die Lieder, machte das Menschsein im Grunde aus.
Derivoo war fast ausschließlich eine menschliche Kunst. Einer der größten Beiträge Terras zur Zivilisation des Reichs war die wohltemperierte Stimmung, doch nur wenige große Komponisten oder Künstler, die von dieser Entdeckung Gebrauch machten, waren tatsächlich Menschen. Da die Gesichter der Daimong völlig ausdruckslos waren, blieb es ihren klingelnden Stimmen überlassen, alle Emotionen, Nuancen und Nebenbedeutungen zu übermitteln. Sie lebten im Grunde ohnehin schon in einer durch und durch musikalischen Welt. Ihre künstlerischen Vorträge waren oft ebenso brillant wie feinsinnig, doch genoss man diese Kunst besser in Form von Aufzeichnungen. Der Geruch von verwesendem Fleisch konnte ein Konzert empfindlich stören, und die Leistungen eines größeren Daimong-Chors bewunderte man lieber bei Rückenwind.
Dagegen war allgemein bekannt, dass die Cree die Musik verkörperten wie kaum jemand sonst. Die Mängel ihrer primitiven Augen wurden durch große Ohren, ein empfindliches Gehör und den enormen Umfang ihrer wohltönenden Stimmen ausgeglichen. Sie hatten meist einen überschäumenden Charakter und schufen vorwiegend Musik, in der Freude und Entzücken zum Ausdruck kamen. Unter den beliebtesten Sängern und Komponisten gab es viele Cree, und selbst wenn ein Künstler einer anderen Spezies ein Kunstwerk schuf oder bekanntmachte, war es häufig die Aufnahme eines Cree, die schließlich als die beste Interpretation galt.
Während Pracht, Prunk, Freude und Tanz den anderen Völkern überlassen blieben, blühten die Terraner vornehmlich bei tragischen Stücken, die von Verlust und Trauer sprachen, zu ihrer wahren Größe auf. Andere Spezies fanden den unverhohlenen Ausdruck von Verzweiflung faszinierend, wenn ein Mensch sich aufraffte und sich einer Wahrheit stellte, die man nur als unerträglich bezeichnen konnte. Selbst den Shaa gefiel diese Kunst. Sie hielten die Tragödie für etwas Edles, das sehr gut zu ihrer eigenen strengen Ethik passte. Immerhin waren sie davon überzeugt, dass alle bis auf ihre eigenen Ideen vergänglich und flüchtig
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