Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
»Als ich zwölf war oder dreizehn, da stand ich schon jeden Abend auf der Bühne. Irgendeine Kinderrolle gab es fast immer. Manchmal musste ich auch Mädchen darstellen – keine Affäre, es hat mir Spaß gemacht. Bloß: Andere Kinder gingen ins Grüne und spielten Ball oder fuhren Schlitten, wenn es Winter war. Und da hatte ich eben manchmal auch keine Lust. Und war wütend. Und fragte meinen Großvater Jonas, warum ich Abend für Abend arbeiten musste, vor irgendwelchen Leuten, die vielleicht gar nicht hinhörten auf das, was ich sagte, oder an der falschen Stelle lachten, während andere Jungen da draußen spielen konnten, was sie wollten, und einfach ins Bett gehen, wenn sie müde waren. Da sagte mein Großvater: >Spiel für die dicke Frau!‹ Und genau wie du, Leonie, fragte ich: >Was für eine dicke Frau?‹ Da nahm er mich an der Hand – ich weiß es noch wie heute, es war vormittags, und wir probten irgendwas, irgendeinen Klamauk, in dem ich einen dreifachenSalto zu springen hatte, was mir gerade sehr schwerfi el, denn damals war ich ein bisschen pummelig und bekam das nicht richtig hin ... Er nahm mich also an der Hand und ging mit mir zur Rampe und zeigte in den dunklen Zuschauerraum.
›Irgendwo da unten sitzt jeden Abend die dicke Frau. Sie hat Wasser in den Beinen und trägt eine alte Strickjacke und eine abgeschabte Perücke, wie sie Jüdinnen aus dem Osten meist haben. Und sie hat ihr letztes Geld zusammengekratzt, um dich spielen zu sehen, Schlomo Laskarow. Nur dich. Sie wartet auf dich. Willst du sie etwa enttäuschen?‹ Seitdem hab ich mich nie mehr beschwert.«
Und hier muss sie ihn küssen, egal ob Mame gerade in der Nähe ist oder nicht.
Ich lerne schnell. Die Texte auswendig hersagen zu können, ist das kleinste Problem. Aber anders als bei der Sulamith habe ich hier kein Vorbild, das ich kopieren kann. Ich muss die Figur der Dina wirklich aus mir selbst neu erfi nden.
Aber da hat der Hauptdarsteller, mein Partner, seine eigenen Vorstellungen, und er kommt gar nicht auf die Idee, dass ich etwas nicht so machen möchte, wie er es will. Und obwohl er, anders als bei den Proben zu »Sulamith«, von unendlicher Geduld ist, gehe ich mit wachsendem Unbehagen zur Probe.
Heute ist vorstellungsfreier Abend, und wir arbeiten an der ersten Begegnung zwischen Dina und dem Sternensohn, ihrem Verlobten, nachdem er zum Anführer des jüdischen Volks geworden ist. Dreimal kippt die Haltung der Dina-Figur in dieser Szene, wenn man dem Stück buchstabengetreu folgt. Zuerst begrüßt sie ihn voller Demut, als eine, die seiner nicht würdig ist. Dann ermuntert sie ihn selbstlos, ihr eigenes Schicksal und ihre Liebe hintanstellend, zum rückhaltlosen Kampf, aber als er sich von ihr verabschiedet, bricht sie fast zusammen: Sie ahnt, er geht in den Tod, und sie verzweifelt.
Diese Gefühlsumschwünge muss ich zeigen. Aber ich möchte sie nicht eins zu eins umsetzen. Mirjam Minas hat es wohl ganz andersgemacht in den früheren Aufführungen, und ich kann mich nicht durchsetzen gegen Schlomo.
Ich habe ein Bild von der Dina im Kopf, aber ich merke, ich weiß noch nicht, wie ich es umsetzen soll. Und was das Schlimmste ist: Er lässt mir keinen Freiraum.
Zum fünften Mal macht er mir geduldig die gleiche Stelle vor. Eine Handbewegung, die nicht meine ist, eine Nuance (»Nimm es einfach ab von mir, Leonie!«), die ich nicht imitieren mag, weil sie mir zu süß, zu weinerlich vorkommt. Schreibt mir die Pausen vor und wo ich Luft holen soll. (»Du musst genau hier atmen, sonst kommst du mit der Stelle nicht klar. Ich kann nicht einsteigen, wenn du mit der Stimme nach unten gehst, weil du keine Luft mehr hast. Bitte lass mich nicht hängen!«) Sagt mir, wie ich gehen und stehen soll. (»Kleinere Schritte, siehst du: so! Nicht so entschieden, mädchenhafter!«) Und immer wieder in aller Ruhe: »Nicht so! Das ist nicht der Ton! Höre, wie ich es sage! Nimm meinen Tonfall ab! Die Dina ist lieblicher!«
Und dann kann ich nicht mehr. Als er seine Hand unter meinen Arm schiebt, um eine Geste zu korrigieren (eine Berührung, die mir beim ersten Mal noch einen Schauder über den Leib gejagt hat, die mir nun aber lästig ist), schüttele ich ihn ab.
»Lass mich in Ruhe! Hör auf, mich am Gängelband zu führen! So kann ich nicht spielen!«
»Aber so musst du spielen!«, sagt er provozierend gelassen. Er grinst sogar.
»Du gehst mit mir um, als wenn ich eine Marionette wäre. Lass mich doch selbst etwas
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