Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Titel: Dreimal im Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arturo Pérez-Reverte
Vom Netzwerk:
Meister Karapetian steht noch immer der Mund offen, und er wirkt verstört. Zwischen den beiden fixiert Irina mit versteinerter Miene das Schachbrett und die leeren Stühle.

9 DIE MAX-VARIANTE
    An einem Kiosk auf der Via San Cesareo kauft Mecha Inzunza die Zeitungen. Max steht neben ihr, eine Hand in der Tasche seines grauen Sportjacketts, und sieht ihr zu, während sie darin blättert und nach der Turnierberichterstattung sucht. Unter der Überschrift »Sechste Begegnung endet mit Remis« veröffentlicht Il Mattino einen Schnappschuss der Spieler, als sie vom Brett aufstehen: Der Russe sieht Keller mit regloser Miene ins Gesicht, und der hat sich abgewandt, als kümmerte ihn das Spiel schon gar nicht mehr oder als schaute er jemanden an, der sich hinter dem Fotografen befindet.
    »Sie haben es schwer heute Morgen«, sagt Mecha und faltet die Zeitung zusammen. »Sie sitzen immer noch alle drei zusammen und zanken sich: Emil, Jorge und Irina.«
    »Und sie ahnt nichts?«
    »Überhaupt nichts. Deshalb können sie sich ja streiten. Emil versteht nicht, warum mein Sohn gestern so gespielt hat. Es geht nur ums Schachspielen, Züge und Erwiderungen ... Als ich weggegangen bin, hat Irina Jorge gerade Vorwürfe gemacht, weil er das Remis angenommen hat.«
    »Ihre Art von Zynismus?«
    Sie bummeln die Straße hinunter. Mecha hat die Zeitungen in einer großen Schultertasche aus Leinen und Leder verstaut, die sie zu der Wildlederjacke und einem in herbstlichen Farben bedruckten Seidenschal trägt.
    »Nicht nur«, antwortet sie. »So, wie die Partie stand, hätte er weiterspielen können, aber er wollte nicht noch mehr riskieren. Die Bestätigung, dass Irina für Sokolow arbeitet, hat ihn erschüttert ... Womöglich hätte er den Druck nicht bis zum Schluss ausgehalten. Darum ist er auf das Angebot des Russen eingegangen.«
    »Jedenfalls hat er sich wacker geschlagen. Vor dem Publikum hat er sich nichts anmerken lassen.«
    »Er kann sich gut zusammennehmen. Er war ja darauf vorbereitet.«
    »Und Irina gegenüber? Gelingt es ihm, sich zu verstellen?«
    »Besser als ihr. Und weißt du was? Es ist bei ihm gar keine Verstellung oder Heuchelei. Du oder ich, wir hätten Irina windelweich geprügelt und mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt. Ich würde sie am liebsten erwürgen, ehrlich gesagt. Es kribbelt mich regelrecht in den Fingern. Aber Jorge setzt sich mit ihr vor das Brett, um Züge zu analysieren und auseinanderzunehmen, und fragt sie ganz selbstverständlich nach ihrer Meinung.«
    Die Straße ist lang, verjüngt sich an manchen Stellen und wird besonders eng, wo die Auslagen der Geschäfte bis über den Gehsteig reichen. Hin und wieder bleibt Max zurück, um Entgegenkommenden Platz zu machen.
    »Aber ist das nicht ein schwerer Schlag?«, fragt er. »Kann er sich denn konzentrieren und einfach weiterspielen wie gewohnt?«
    »Du kennst ihn nicht. In seinem Fall ist diese Kaltblütigkeit verständlich. Er spielt weiter. Alles in allem handelt es sich bloß um eine Schachpartie, die zum Teil im Salon des Hotels und zum Teil andernorts entschieden wird.«
    Sie passieren schattige und helle Abschnitte, wo die hohen Häuserfassaden das gelbliche Sonnenlicht reflektieren. Läden mit marokkanischem Kunstgewerbe und Souvenirs wechseln sich ab mit Lebensmittelgeschäften, und die Gerüche von Obst und Gemüse, Fisch und Eingesalzenem mischen sich mit denen von Leder und Gewürzen. Auf den Balkons trocknet Wäsche.
    »Er hat sich nicht dazu geäußert«, sagt Mecha nach kurzem Schweigen. »Aber ich bin sicher, dass er jetzt insgeheim gegen zwei Gegner spielt. Gegen den Russen und gegen Irina. Eine Art Simultanpartie.«
    Wieder verstummt sie und sieht in das Schaufenster eines Ladens für Damenbekleidung – Hippiestil, Leinen aus Positano – ohne großes Interesse.
    »Später«, fährt sie fort, »wenn hier alles vorbei ist, wird Jorge sich mit dem auseinandersetzen, was wirklich passiert ist. Dem emotionalen Teil. Das wird hart für ihn. Bis dahin mache ich mir keine Sorgen.«
    »Jetzt verstehe ich Sokolows Selbstsicherheit«, bemerkt Max. »Diese Arroganz während der letzten Partien.«
    »Es war sein Fehler. Er hätte mit dem Zug länger warten müssen. Ein bisschen Theater spielen. Nicht einmal ein Weltmeister könnte in weniger als zwanzig Minuten die Komplexität der Stellung erfassen und die richtige Entscheidung treffen.«
    »Übermut?«
    »Eitelkeit, nehme ich an. Bei längerem Nachdenken hätte die Möglichkeit bestanden,

Weitere Kostenlose Bücher