Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
einen davon:
» Er erinnert sich, dass er jedes Mal am Boden zerstört war, wenn er eine Partie verloren hatte. Dann weinte er untröstlich und verweigerte tagelang die Nahrung. Doch seine Mutter pflegte ihm immer zu sagen: Ohne Niederlagen keine Siege.«
Nachdem er das Buch zurückgelegt hat, öffnet Max den Schrank. Im oberen Fach liegen zwei sehr abgenutzte Louis-Vuitton-Koffer und darunter befindet sich Bekleidung auf Bügeln und gefaltet in den Regalen: eine Wildlederjacke, Kleider und Röcke in dunklen Tönen, feine französische Seidentücher, gute englische und italienische Schuhe, bequem, mit kleinem Absatz oder flachen Sohlen. Unter einem Wäschestapel entdeckt Max eine lederbezogene schwarze Kassette mit einem kleinen Schloss. Er knurrt zufrieden wie eine hungrige Katze vor einer Sardinengräte und spürt das aus früheren Zeiten vertraute Kribbeln in den Fingern. Mit Hilfe einer l-förmig gebogenen Büroklammer hat er das Kästchen rasch geöffnet. Darin liegt ein kleines Bündel Schweizer Franken und ein chilenischer Pass auf den Namen Mercedes Inzunza Torrens, geboren in Granada, Spanien, am 7. Juni 1905 mit aktuellem Wohnsitz in Chemin du Beau-Rivage, Lausanne, Schweiz. Das Foto ist jüngeren Datums, und Max betrachtet eingehend das ergraute, fast männlich kurz geschnittene Haar, den fest in die Kamera gerichteten Blick, die Falten um Augen und Mund, die durch das Blitzlicht besonders unbarmherzig betont sind. Eine ältere Frau, stellt er fest. Einundsechzig Jahre alt. Drei weniger als er, mit dem Unterschied, dass die Zeit mit Frauen noch gnadenloser umgeht als mit Männern. Dennoch lässt das Passfoto die Schönheit erahnen, die Max fast vierzig Jahre zuvor an Bord der Cap Polonio erfahren hat: der ruhige Blick, die Augen, die auf diesem Foto noch heller wirken, als Max sie in Erinnerung hat, der betörende Schwung der Lippen, die feinen Züge, derlange anmutige Hals. Manche Geschöpfe bekommen sogar das Altern einigermaßen schön hin, denkt Max.
Nachdem er Pass und Geld zurückgelegt und darauf geachtet hat, dass alles so aussieht wie vorher, geht er den übrigen Inhalt durch: einige Schmuckstücke, schlichte Ohrringe, ein schmaler, glatter Goldreif, eine Vacheron-Constantin-Damenuhr mit schwarzem Lederband. Und dann ist da noch ein flaches, quadratisches Kästchen aus braunem, stark abgegriffenem Leder. Als er es aufklappt und das Collier erkennt – zweihundert makellose Perlen mit einer einfachen Goldschließe – zittern ihm die Hände, ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht, er strahlt triumphierend, und plötzlich fühlt er sich jung.
Im Lichtschein einer Lampe nimmt er die Kette aus dem Kästchen und betrachtet sie: Sie ist in einwandfreiem Zustand, vollkommen intakt, genau wie er sie in Erinnerung hat. Sogar der Verschluss ist derselbe. Die schönen Perlen reflektieren weich das Licht, fast matt. Als sich diese Kette vor achtunddreißig Jahren einmal für ein paar Stunden in seinem Besitz befand, hatte ihm ein Juwelier namens Troianescu in Montevideo dreitausend Pfund Sterling dafür bezahlt, eine Summe, die unterhalb des tatsächlichen Wertes gelegen hatte, die aber seinerzeit durchaus beträchtlich war.
Max begutachtet die Perlen. Er hat immer ein scharfes Auge für solche raschen Einschätzungen gehabt. Echte Perlen sind wegen der massenhaften Zuchtperlenproduktion im Preis stark gesunken, wobei alte Stücke von hoher Qualität noch immer als kostbar gelten. Diese hier sind wohl noch an die fünftausend Dollar wert. Würde er sie einem italienischen Fachmann seines Vertrauens vorlegen – er kennt von früher einen, der immer noch aktiv ist –, ließen sich sicher vier Fünftel dieser Summe erzielen: fast zweieinhalb Millionen Lire oder drei Jahresgehälter als Chauffeur in der Villa Oriana. Das sind die Überlegungen, die Max anstellt, als erMecha Inzunzas Collier in der Hand hält. Das Collier einer Frau, die er einst kannte, und das einer anderen, die er nicht mehr kennt. Die auf dem Passfoto. Die Frau, deren neuen, fremden, fast vergessenen Duft er beim Betreten des Zimmers und beim Durchsuchen des Kleiderschranks wahrgenommen hat. Die stark, wenn auch nicht völlig veränderte Frau, die eine knappe Stunde zuvor an ihm vorbeigegangen ist, ohne ihn zu erkennen. Max’ Erinnerungen überschlagen sich, als er über die glatte Oberfläche der Perlen fährt: Musik und Gespräche, Lichter einer anderen Zeit, wie aus einem anderen Jahrhundert, die Küste von Buenos Aires,
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