Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
an. Jorge Keller und das Mädchen tauschen einen raschen Kuss, eilen auf die Tanzfläche, wo sich schon andere Paare tummeln, und beginnen, sich lebhaft im Twist-Rhythmus zu bewegen.
»Nicht zu fassen«, bemerkt Max.
»Was ist nicht zu fassen?«
»Dein Sohn. Seine Art. Sein Verhalten.«
Sie sieht ihn belustigt an.
»Meinst du den Anwärter auf die Schachweltmeisterschaft?«
»Genau den.«
»Verstehe. Ich nehme an, du hast einen bleichen, scheuen Knaben erwartet, der in einer Wolke aus vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern lebt.«
»So was Ähnliches, ja.«
Mecha wiegt den Kopf. Er solle sich nicht täuschen, sagt sie ominös. Die Wolke sei schon auch da. Auch wenn es nicht danach aussehe, spiele er die unterbrochene Partie weiter. Was ihn von anderen unterscheide, sei zweifellos, wie er damit umgehe. Manche Großmeister kapselten sich von der Welt ab und versenkten sich wie Mönche. Jorge Keller aber sei anders. Seine Spielweise zeichne sich gerade dadurch aus, dass er das Schachspiel auf die Welt und das Leben projiziere.
»Hinter dieser scheinbaren Normalität und Lebensfreude«, fügt sie hinzu, »verbirgt sich eine Sichtweise auf den Raum und die Dinge, die mit deiner oder meiner nichts gemein haben.«
Max nickt. Er beobachtet Irina Jasenovic.
»Und sie?«
»Sie ist ein eigenartiges Mädchen. Ich selbst begreife auch nicht, was in ihrem Kopf vorgeht. Sie ist ohne Zweifel eine große Schachspielerin. Tüchtig und scharfsinnig ... Aber ich weiß nicht, inwieweit ihr Verhalten wirklich ihrem Wesen entspricht oder durch ihre Beziehung zu Jorge bedingt ist. Keine Ahnung, wie sie früher war.«
»Ich hätte nie gedacht, dass es so gute Schachspielerinnen gibt. Ich dachte immer, es wäre eine Männerdomäne.«
»Keineswegs. Es gibt viele weibliche Großmeister, vor allem in der Sowjetunion. Allerdings hat noch keine eine Weltmeisterschaft gewinnen können.«
»Woran liegt das?«
Mecha trinkt einen Schluck Wasser und blickt einen Moment vor sich hin. Emil Karapetian, sagt sie schließlich, habe diesbezüglich eine Theorie: Es sei nicht dasselbe, ein paar Partien zu spielen oder zu einem Turnier oder gar zu einer Weltmeisterschaft anzutreten. Letzteres erfordere harte, ausdauernde Arbeit, extreme Konzentration und große emotionale Stabilität. Frauen, die ja ständigen biologischen Schwankungen unterworfen seien, falle es schwerer, diese Stabilität während eines anstrengenden Wettbewerbs wochen- oder monatelang aufrechtzuerhalten. Faktoren wie Mutterschaft oder Menstruation könnten das notwendige Gleichgewicht beeinträchtigen, die es für ein Turnier auf höchstem Niveau brauche. Deshalb schafften es nur wenige Frauen bis ganz nach oben.
»Teilst du diese Meinung?«
»Ein wenig. Ja.«
»Und Irina, sieht sie das auch so?«
»Nein, nicht im Geringsten. Sie ist überzeugt, dass es keinerlei Unterschied gibt.«
»Und dein Sohn?«
»Jorge denkt wie sie. Er sagt, es sei nur eine Frage der Haltung und der Gewohnheiten. Er glaubt, dass sich in den nächsten Jahren vieles ändern wird, im Schach und überhaupt. Dass die Veränderungen bereits in vollem Gang sind: Jugendrevolte, der Mond zum Greifen nah, die Musik, die Politik und überhaupt.«
»Wahrscheinlich hat er recht«, gesteht Max ein.
»Das klingt nicht gerade bedauernd.«
Gespannt sieht sie ihn an. Ihr Kommentar hatte einen eher provokativen als beiläufigen Tonfall. Er antwortet mit einer vagen Geste. Melancholisch.
»Jede Epoche hat ihre Zeit«, erwidert er zurückhaltend. »Und ihre Menschen. Meine ist schon lange vorbei, und ich hasse es, wenn sich ein Ende hinauszögert. Das verdirbt die Sitten.«
»Du sagst immer noch schöne Dinge. Ich habe mich schon damals gefragt, wo du das alles herhast.«
Der ehemalige Salontänzer winkt ab, als läge die Antwort auf der Hand.
»Hier und da aufgeschnappt, nehme ich an. Danach ist es nur noch eine Frage der geeigneten Platzierung.«
»Deine Umgangsformen haben jedenfalls keinen Schaden genommen. Du bist noch immer der vollendete Charmeur, den ich vor vierzig Jahren auf diesem Schiff kennengelernt habe, das so blitzblank und weiß war ... Eben hast du von deiner Epoche gesprochen, als gehörte ich nicht hinein.«
»Du bist ja auch noch voller Leben. Man braucht dich nur mit deinem Sohn und den anderen zu sehen.«
Der erste Satz hatte einen klagenden Unterton, und Mecha mustert ihn eindringlich. Vielleicht ist sie plötzlich hellhöriggeworden? Sekundenlang fürchtet Max um seine
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