Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
und holte einen Fünf-Dollar-Schein hervor, legte ihn auf das offene Buch meines Bruders.
Brady hielt den Schein triumphierend hoch. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie klüger ist als du.«
»Und ich habe dir da nie widersprochen«, erwiderte James und sah mich nun doch an. »Ich hab schon immer gewusst, dass deine Schwester klüger ist als ich. Und hübscher. Darauf hab ich ja auch gar nicht gewettet. Ich wollte nur, dass du sie hereinrufst, damit sie mich endlich mal wieder beachtet. Das war mir die fünf Dollar wert.«
Bevor ich richtig begriff, was er gesagt hatte, blätterte James schon wieder in seinem Buch, den Mund immer noch zu einem leichten Grinsen verzogen.
Brady drückte mir das Geld in die Hand. »Du hast es dir verdient«, meinte er. »Dafür, dass du ihn immer ertragen musst.« Er tat so, als hätte James einen Scherz gemacht, lachte dessen Worte weg.
Aber mein Gesicht brannte vor Verlegenheit. Und Demütigung.
Ich knüllte den Schein zusammen und warf ihn nach James, sah, wie er von seiner Wange abprallte. Er blickte auf, überrascht, und Brady lachte.
»Ich will dein Geld nicht«, sagte ich und drehte mich um, um wieder nach oben zu gehen, in mein Zimmer.
»Was willst du dann, Sloane?«, rief James mir amüsiert hinterher, als wollte er mich zu einer Antwort provozieren.
Ich blieb einen Moment auf der Treppe stehen, dann ging ich in mein Zimmer.
Ich weiß, dass James diesmal nicht zu mir kommen wird, so wie er es an jenem Tag tat, um sich zu entschuldigen. James ist jetzt im »Programm«. Der James, den ich gekannt habe, ist verschwunden.
»Sloane, Liebes?«, höre ich meine Mutter sagen, die draußen vor meiner Zimmertür steht.
Ich liege teilnahmslos auf meinem Bett, muss mich zwingen, ihr zu antworten. »Was ist?«
»Zeit zum Abendessen. Würdest du bitte nach unten kommen? Ich habe dich schon dreimal gerufen.«
Hat sie?
»Klar. Sicher.« Ich erhebe mich schwerfällig, schaue an mir herab. Ich wünschte, es wären Blutstropfen auf meiner Kleidung oder Tränen, irgendetwas, was auch äußerlich zeigt, wie verletzt ich bin. Doch es sind nur eine Jeans und ein pinkfarbenes T-Shirt. So schmerzhaft unbedeutend, das s ich mich selbst dafür hasse. Ich gehe nach unten.
Meine Eltern sitzen am Esstisch, jeder von ihnen ein wohlwollenes Lächeln ins Gesicht getackert. Ich versuche, ihr Lächeln zu erwidern, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen etwas vormachen kann.
Vater runzelt die Stirn.
»Ich hab dein Lieblingsessen gemacht«, sagt Mutter. »Spaghetti und Fleischbällchen.«
Ich weiß, dass sie eine halbe Ewigkeit gebraucht hat, um die Soße zuzubereiten, und deshalb bedanke ich mich. Ich setze mich und überlege, ob ich wohl etwas in ihrem Medizinschrank finden kann. Etwas, was mir helfen wird zu schlafen.
»James’ Vater hat angerufen«, sagt meine Mutter sanft. »Er hat uns erzählt, dass James heute ins ›Programm‹ geschickt wurde.«
Mein Magen knotet sich um ihre Worte, und ich trinke einen Schluck Wasser. Die Eiswürfel im Glas schlagen laut aneinander, weil meine Hände so sehr zittern.
»Er wird von nun an sicher sein«, fährt meine Mutter fort. »Wir sind alle so dankbar für ›Das Programm‹. Wir wussten ja nicht einmal, dass er infiziert war.«
Ich wusste es. Aber nun weiß ich auch, dass er fort ist, und wenn er zurückkommt, werde ich nicht länger Teil seines Lebens sein. Sie werden alles in ihm ausgelöscht haben.
»Sloane, deine Mutter redet mit dir«, mahnt Vater leise.
Ich sehe ihn an, und der Ärger spiegelt sich deutlich auf meinem Gesicht, denn er setzt sich aufrecht hin. »Was soll ich denn deiner Meinung nach darauf antworten?«, frage ich. Ich habe meine Stimme kaum unter Kontrolle. »Was ist die korrekte Antwort darauf?«
»Dass du glücklich darüber bist, dass es ihm nun besser gehen wird. Dass du glücklich darüber bist, dass er sich nun kein Leid mehr antun wird.«
»Sie haben ihn rausgezerrt«, fahre ich ihn an. »Sie sind in die Klasse gekommen und haben ihn nach draußen gezerrt. Was soll glücklich daran sein?«
»Sloane«, sagt meine Mutter alarmiert, »wusstest du etwa, dass er infiziert ist? Du hast doch nicht versucht, es zu verbergen, oder? Er hätte …« Sie spricht nicht weiter, schaut ganz entsetzt drein.
Ich kann einfach nicht glauben, dass sie es nicht verstehen. Ich frage mich, ob es daran liegt, dass Erwachsene eher dazu neigen, Probleme zu verdrängen, dass sie Nicht-Wissen für einen Segen halten. »Das
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