Dunkle Häfen - Band 2
gegangen und sie wäre frei gewesen, denn wieso hätten die Wachen eine harmlose Adlige aufhalten sollen? Aber in ihrer Euphorie beging sie eine kleine Unachtsamkeit und eilte um einiges zu schnell um eine Ecke. Heftig prallte sie gegen eine Gestalt, die ihr entgegenkam. Beide erschraken, während das Gold wild aufrasselte und Ramis eine Entschuldigung murmelte. Mit gesenktem Kopf wollte Ramis an dem Mann vorbeilaufen und hoffte, dass sie nicht verdächtig aussah. Aber er rief etwas hinter ihr her. Ramis drehte sich um und registrierte, dass er eine Perlenkette in der Hand hielt. Plötzlich stand alles auf der Kippe.
Da tat Ramis etwas Unverzeihliches, eine Sache, die ihr als Piratin nie hätte passieren dürfen: Sie verlor die Nerven und rannte los. Die Stimme hinter ihr verschärfte sich und wurde laut. Der Mann nahm die Verfolgung auf. Doch noch immer war Ramis kräftig genug, um einen verweichlichten Adligen wie ihn abhängen zu können. Mitten im Lauf blieb ihr jedoch fast das Herz stehen, als sie grob zurückgerissen wurde. Der Schwung riss sie und ihren Angreifer fast um. Rasch erkannte sie einen Wachsoldaten. Sie trat den Mann gegen das Schienbein und kurz war sie frei, aber dann war auch schon sein Kumpan zur Stelle und packte wieder ihre Arme. Als sie sich wehrte, löste sich das Tuch unter ihrem Rock und einige der Schmuckstücke purzelten heraus. Der Adlige von vorhin kam inzwischen auch an. Stumm betrachtete er sie und das Chaos um sie herum. Daraufhin lächelte er, doch es war kein angenehmes Lächeln. Er redete mit den Soldaten und stellte auch Ramis eine Frage. Nach einer Weile gab er es auf, auf eine Antwort zu warten. Er hatte allen Grund, sie für eine schwachsinnige Diebin zu halten. Wie verfuhr man in Frankreich mit Dieben? Wurden sie gehängt oder wurde ihnen die Hand abgeschlagen? In einem solch schweren Fall wie ihrem hätte man sie in England sicher gehängt. Hier hatte sie wohl nichts Besseres zu erwarten.
Die Soldaten nahmen Ramis in die Mitte und folgten dem Adligen, der vor ihnen herging. In der Hand trug er den Schmuck, den einer der Soldaten aufgelesen hatte. Man schaffte sie durch eine Tür, vermutlich die in seine Gemächer. Warum die Gemächer und nicht das Gefängnis? Der Mensch war ihr absolut nicht geheuer. In einem Zimmer, einem Arbeitsraum, band man sie an einen Stuhl. Zu allem Übel musste die Diebin an einen einflussreichen Mann geraten sein, sonst hätte er keine ganze Zimmerflucht für sich gehabt. Einer der Soldaten wurde hinausgeschickt, während die anderen auf seine Rückkehr warteten. In der Zwischenzeit starrte der Adlige Ramis an, was ihr sehr unangenehm war. Sicher bot sie einen absurden Anblick: Halb abgeschminkt, mit aufgelöster Frisur unter dem Tuch. Er startete noch einmal einen Versuch, sie anzusprechen, aber Ramis zuckte nur mit den Achseln. Einige Zeit später kam der Soldat mit einem Herrn herein, in dem Ramis den Verwalter vom Vortag wiedererkannte, der ihnen das Zimmer gezeigt hatte. Natürlich würde er sie wiedererkennen. Der Adlige wandte sich an ihn und deutete auf Ramis. Der Verwalter trat daraufhin näher und musterte sie eingehend. Nach kurzem Überlegen nickte er und teilte sein Wissen dem Adligen mit. Leichtes Erstaunen zeigte sich auf dessen Gesicht ab.
"Ihr seid Engländerin?" , fragte er sie dann auf Englisch.
"Ja."
"Weshalb habt Ihr den Schmuck gestohlen? Ihr habt ihn doch gestohlen?"
"Ich wollte weg von hier." Was half es, noch zu lügen?
"Und nehmt gleich halb Versailles mit Euch?"
Ramis biss sich auf die Lippen und schwieg.
"Und wohin wolltet Ihr mit dem Diebesgut? Seid Ihr etwa nur eine ganz gewöhnliche Betrügerin? Oder ist da mehr?"
"Ich kenne Euer Recht nicht, aber es steht Euch sicher nicht an, Verhöre durchzuführen?" , konterte sie, um ihr verräterisches Unbehagen zu verbergen.
"Nun ja, normalerweise sind dafür die Folterknechte zuständig."
Ramis war sich nicht sicher, ob er nur scherzte. Der Mann richtete das Wort wieder in Französisch an die anderen Männer. Ihren Mienen war nichts zu entnehmen, als sie das Zimmer verließen.
"So ", brummte der Adlige, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. "Was glaubt Ihr, was man mit Dieben macht? Ja, ich sehe es in Euren Augen. Aber wisst Ihr was? Ihr könnt Euer lumpiges Leben retten." Er machte eine Pause, um die Überraschung in Ramis Gesicht zu sehen. "Ja, ich werde Euch freilassen und niemandem etwas verraten. Unter der Bedingung, dass Ihr den Schmuck wieder
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