Dunkle Häfen - Band 2
es fällt uns oft schwer, die Gedanken der anderen nachzuvollziehen. Ich bin dennoch sehr froh, sie als Mitbewohnerin zu haben. Wenn wir abends im Zimmer sind, können wir zwei ganz normale Menschen sein. Dann setzt sie sich in ihrem Hemd zu mir aufs Bett und wir plaudern über den Tag und seine Geschehnisse. Dieses Mal half mir ihr Zureden allerdings nichts und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich mir gesagt: Jetzt ist es endgültig Zeit zu verschwinden. Doch ich habe Angst, bis zum Äußersten zu gehen. Mein Leben geriete dabei in große Gefahr, denn selbst wenn ich es schaffen sollte, den Herzog von Orléans und seine Wachen zu umgehen, hätte ich halb Frankreich durchqueren müssen. Wenn ich das geschafft hätte, ohne überfallen worden zu sein, wäre ich vor der Schwierigkeit gestanden, mit einem Schiff in die Karibik zu kommen. Dort hätte ich die Fate wiederfinden müssen. Und das alles ohne Geld. Ich hatte ja nicht einmal mehr eine Ahnung, was mich in der Karibik erwarten würde. Hätte, hätte, hätte... Natürlich sind das alles dumme Ausflüchte, um meine Feigheit zu verbergen, die ich nicht überwinden kann. Solange es noch erträglich ist, ist der Mensch nicht fähig, sich zu überwinden, alles über den Haufen zu werfen und sich ins Unbekannte zu stürzen. Wie lange kann ich der Sehnsucht nach meinen Kindern und der Ausweglosigkeit meiner Situation noch widerstehen?
28.Oktober 1714, Versailles
Weil ich, wie alle sagten, so unglücklich aussah, lud mich der Marquis eines Tages auf eine Kutschfahrt ein. Es war für mich die erste Gelegenheit, aus Versailles herauszukommen und freudig sagte ich zu. Er wollte mit mir ein Picknick in 'freier Wildbahn' machen, wie er sagte. Er hätte mich ja auch gerne mit auf die Jagd genommen, weil ich den Eindruck mache, ich sei einsam, aber er hatte bereits Bekanntschaft mit meinen Reitkenntnissen gemacht: Nämlich als er mich überredet hatte, mich - im Damensitz! - auf ein Pferd zu setzen, war ich beim ersten Galopp heruntergefallen. Und so brachen wir gutgelaunt mit der Kutsche auf. Der Tag war noch einmal wunderschön sonnig, es war einer der allerletzten halbwegs warmen Tage im Jahr. Der Marquis kümmerte sich sehr zuvorkommend um mich, das war eben seine Art, wenn nicht gerade die Magnon anwesend war. Zum Glück kam sie heute überhaupt nicht zur Sprache, obwohl sie doch sein Lieblingsthema war. Und so trübte nichts die morgendliche Ruhe. Die bunten Wälder riefen einen tiefen Frieden in mir hervor, ich fühlte mich im Einklang mit der Natur. Ich habe immer ihre Werke mehr geliebt und bewundert als die Werke der Menschen, denn nichts kommt der Schöpfung des Lebens gleich. Doch auch dieses ganze Gebiet gehört noch zu Versailles, es ist das Jagdgelände der Hofgesellschaft. Versailles gleicht einer Stadt. Allein im Schloss leben ständig rund 3000 Menschen, dazu kommen noch die täglichen Gäste. Das Schloss hat seine eigenen Handwerker, Perückenmacher, Schneider... Sogar einen Gemüsegarten gibt es, um den König mit frischem Gemüse zu versorgen. Daneben wird der Garten mit einer eigenen Wasserpumpe versorgt, einer architektonischen Höchstleistung, wie mir stolz versichert wurde.
Unbeschwert plauderte ich während der holprigen Fahrt mit dem Marquis. Obgleich ich mich manchmal über ihn ärgere, ist mir seine Gesellschaft inzwischen angenehm und da er die ganze Zeit über redet, kommt nie ein peinliches Schweigen zustande. Die letzten sonnigen Tage des Jahres verbreiten eine ganz besondere Stimmung. Wir ließen uns am See zwischen dem Laub nieder, um das Picknick abzuhalten. Trotz des einfachen Anlasses benahm sich der Marquis seltsam gespreizt. Ich lächelte über seine umständlichen Bemühungen, sich auf der Decke niederzulassen, die ein Diener ausgebreitet hatte. Dabei freute er sich auch noch über 'dieses einfache ländliche Picknick' im Freien und darüber, wie geruhsam das 'einfache Leben' doch sein konnte. Wobei er vergaß, dass das Leben der einfachen Leute alles andere als geruhsam ist. Versteht man hier denn nicht, was bittere Armut ist? Ich fürchte es, der Reichtum ist für diese Leute selbstverständlich. Was, wenn sie plötzlich mit nichts in der Welt ständen, ohne ihre Privilegien?
Nach dem fürstlichen Essen wollte der Marquis mit mir Ball oder Fangen spielen, etwas, woran ich wenig Spaß hatte. Ich fand es ziemlich langweilig und außerdem konnte ich mit meinen Kleid schlecht laufen. Er dagegen
Weitere Kostenlose Bücher