Dunkle Spiegel
zehnstöckigen Gebäudes am südlichen Ende der Stadt betraten. Eine Unzahl von Briefkästen bedeckte fast die gesamte linke Wand des Flurs. Einige davon quollen vor Werbung und Prospekten fast über. In den meisten steckten Namensschilder in den teilweise schon gelben Plastikfensterchen, jedes in einer anderen Handschrift geschrieben, einige wenige sogar mit einem Computer. Die meisten Namen waren einigermaßen leserlich geschrieben, bei anderen aber war die Ähnlichkeit mit Hieroglyphen größer als mit den Buchstaben des Alphabets.
Der typische Geruch von gebohnertem Linoleumboden stieg mir in die Nase. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich in meine schon etwas länger vergangene Schulzeit zurückversetzt. Die hohen Gänge, das zarte Grün an den Wänden, dieser Geruch, eine breite Treppe aus weißem Stein und einem metallenen Geländer mit schwarzem Gummiüberzug - fast wie früher.
“Wie heißt unser Auserwählter eigentlich?” fragte ich meinen Partner. Er kramte kurz in einigen Papieren.
“Oliver McLucky.”
“McLucky? Doch hoffentlich nicht der Sohn von James McLucky, oder?” James McLucky war durch Grundstücksgeschäfte und Aktien zu Reichtum und Ansehen gelangt, und seine Familie zählte in unserer Stadt zu den einflussreichsten überhaupt.
“Doch,” meinte Ramirez nickend, ließ seinen Zeigefinger weiter über die aufgeschlagene Seite wandern und schüttelte dann langsam den Kopf.
“Scheiße. Das könnte eine harte Nuss werden.”
“Vielleicht haben wir Glück und er hat rein gar nichts damit zu tun.” Entgegnete ich.
Immer dann, wenn Verdächtige in reichen oder einflussreichen Verhältnissen lebten, machte uns das die Ermittlung nicht gerade einfacher. Inzwischen hatte ich mich aber an dieses gewisse Maß an Arroganz gewöhnt, die wohl ab einem gewissen gesellschaftlichen Stand zu einer Art Selbstschutz dazugehörte. Doch auch ich hatte mir eine harte Schale angeschafft, die speziell in solchen Situationen zum Einsatz kam, wenn es nötig wurde.
Nachdem wir den Stock und die Zimmernummer ausfindig gemacht hatten, stiegen wir langsam die Treppe empor. Einen Aufzug gab es bedauerlicherweise nicht.
“Was wissen wir über unseren Oliver McLucky?”
“Er ist vierundzwanzig Jahre alt und ledig. Er studiert Biologie, hat ausgezeichnete Noten, zeigte bisher keine Auffälligkeiten, hat keine Vorstrafen. Aber unter seinem Namen sind drei Adressen angegeben. Einmal diese hier - für die Zeit während des Studiums, nehme ich an. Dann eine weitere in direkter Nachbarschaft seines alten Herrn - vielleicht ein Nebenhaus mit eigenem Pool und Briefkasten?” witzelte er.
Ich lächelte schwach. “Und Nummer drei?”
“Tja, eine Adresse weiter draußen. Ich würde vermuten, dass es sich um eines der kleinen Häuser in der Nähe des Lake Moon handelt. Die sind sehr beliebt. Sehr abgelegen und ruhig Man kann sich dort wunderbar zurückziehen und hat jede Menge Möglichkeiten für laute Partys … und auch noch ganz andere Sachen.”
Ich nickte. “Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Hast du eine Sonnenbrille dabei?”
Ramirez sah mich verdutzt von der Seite an. Er steckte langsam seine Hand zuerst in die linke, dann in die rechte Tasche seines Mantels. Schließlich grinste er breit.
“Die muss mir Sammy heut morgen in die Tasche gesteckt haben.”
Ich lächelte. Ich hatte gleich das Bild seiner süßen, kleinen Tochter vor Augen. Die Stupsnase, die kleinen Sonnensprossen, das haselnussbraune Haar mit den Naturlocken. Der freche Blick und die Hände vor den Augen, wenn sie etwas angestellt hatte und es genau wusste.
“Gut. Schlag dir bitte den Kragen hoch und zieh sie auf! Und sei so wortkarg wie möglich.” Sofort verwandelte sich Ramirez in einen düster dreinblickenden Hünen. Er streckte noch das Kreuz und ließ die Schultern noch etwas breiter aussehen.
Wir hatten die Tür der Wohnung mit der Nummer 412 erreicht. Von drinnen ertönte laute Musik. Etwas Hartes, mit viel Bass. Jemand sang den Refrain mit, wenn auch nicht gerade sehr begabt. Ich betätigte die Klingel. Augenblicklich verstummte die Musik. Schritte näherten sich schnell der Tür.
Als sie geöffnet wurde, sahen wir in ein schlankes, frisch rasiertes Gesicht. Die Haare waren kurz geschnitten und leicht gekräuselt, die Augen strahlten in einem warmen Braun, auch wenn in diesem Moment ein wachsames Funkeln in ihnen zu erkennen war. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er war der junge Mann auf dem Foto.
Ich sah
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