Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
hob, als wollte er applaudieren.
Am letzten Tag hielt sie ihm für ein paar Minuten eine Zigarette an die Lippen, und er versuchte immer wieder, daran zu ziehen. Anschließend goss sie Whisky in ein kleines Glas und benetzte seine Zunge mit ein paar Tropfen. Danach stellte sie das Glas wieder weg, kämmte ihm die Haare, wusch behutsam sein Gesicht und nahm seine Hand, während ich die andere Hand hielt, bis Dad aufhörte zu atmen.
Eine ganze Weile saßen wir wie erstarrt da. Eine Minute, zwei Minuten. Wir konnten nicht fassen, dass wir seine Atemzüge nicht mehr hörten, sondern nur noch die Stille.
»Mach die Tür auf!«, rief Min auf einmal. »Schnell! Schnell!«
Ich öffnete die Haustür ein Stückchen.
»Nein, richtig weit!«, befahl sie. Sie war aufgesprungen, und ihre Augen funkelten pechschwarz in ihrem blassen Gesicht. »Noch weiter!«
In dem Moment kam Reeny herein. Sie gab mir einen Kuss und sagte zu Min: »Soll ich dir helfen, ihn zu waschen?«
Doch Min stand reglos da, starrte auf die Tür und antwortete nicht.
Damals war ich verrückt nach Jungs. Sogar an dem Tag, als mein Vater starb, konnte ich an nichts anderes denken. Im Grunde waren es gar nicht die jungen Männer selbst, die mich interessierten, sondern diese wahnsinnig aufregende Welt, die meine Freundinnen und ich neu entdeckt hatten. In dieser Welt drehte sich alles nur um Jungs. Wir beobachteten sie, sie beobachteten uns, wir redeten die ganze Zeit über sie, über nichts anderes. Als Dad gestorben war, ging ich hinauf in sein altes Schlafzimmer. Vor der Tür blieb ich kurz stehen und versuchte, nur noch an ihn zu denken und alles andere aus meinem Kopf zu verbannen. Ich wollte für ihn beten, dass er in Frieden ruhen möge.
Ich sah die Trauer hinten in der Ecke auf mich warten. Sie winkte mir zu – aber mein eigenes Leben drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Weil ich so scharf auf Jungs war, gehörte ich jetzt zum ersten Mal zur Clique der beliebtesten Mädchen, und sie schlossen mich nicht mehr aus, nur weil ich im Unterricht mitarbeitete. Wir hingen vor Mr. Colfers Laden herum und vor der Fish and Chips-Bude, die Sorrento hieß, oder in irgendwelchen Hinterhöfen. Die Jungs tauchten auf und verschwanden wieder, sie saßen auf den Mauern und pfiffen uns hinterher, wenn wir mit geröteten Wangen an ihnen vorbeispazierten. Aber jetzt war mein Vater gestorben und lag tot unten in der Küche. Meine größte Sorge war, dass ich Schwarz tragen musste und alle mich deswegen anstarren würden. Oder dass man mich vielleicht gar nicht aus dem Haus lassen würde.
Ich hörte, wie Min die Treppe heraufkam. Seit ich sie kannte, nahm sie immer zwei Stufen auf einmal, sie hüpfte wie eine Bergziege, aber an diesem Tag bewegte sie sich ganz langsam. Ich dachte, sie würde in ihr Zimmer gehen, aber sie trat hinter
mich, und ich meine mich sogar zu erinnern, dass sie für einen kurzen Moment ihre Wange an meinen Rücken legte.
»Wir lassen ihn morgen abholen«, sagte sie. »Das Begräbnis findet übermorgen statt. Und du, Rosie – du gehst jetzt am besten mit deinen Freunden weg. Du warst immer sein Stolz und seine Freude, und er würde nicht wollen, dass du zu Hause herumhockst.«
Dann wurde ihre Stimme lauter. »Er hatte wirklich ein schönes Leben«, erklärte sie. »Ich weiß, dass es nicht immer so aussah, aber er hat das tausendmal zu mir gesagt, und er hat mich nie angelogen. Und jetzt ist er noch glücklicher als vorher. Hast du gespürt, wie sein Geist zur Tür hinausgeschwebt ist? Und hast du gemerkt, wie glücklich er war?«
Ich schloss das Fenster in Dads Zimmer. Wie eigenartig – aber an dem Tag, als er starb, war Min gerade mal neunundzwanzig!
Leise ging ich zurück zu ihr, am Bad vorbei. Sie lag reglos unter der Bettdecke.
»Ist es okay, wenn ich das Licht anmache?«, fragte ich sie. »Hör zu, Min. Ich habe gerade über New York nachgedacht. Ich glaube, die Reise wäre rausgeworfenes Geld. Ich müsste eigentlich nur zu einem einzigen Termin. Und soll ich dir sagen, mit wem ich verabredet war? Mit Markey Cuffe, der früher hinter uns in der schmalen Gasse gewohnt hat. Wahrscheinlich hätte es sowieso nicht geklappt. Deshalb habe ich beschlossen, nicht nach New York zu fliegen.«
»Nein!« Sie schwang ihre dürren Kinderbeine aus dem Bett. »Nein!«, rief sie noch einmal, ohne mich anzusehen. »Du fliegst nach New York. Ich will es.«
»Aber ich kann nicht mit ruhigem Gewissen wegfahren«, entgegnete ich.
Weitere Kostenlose Bücher